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Unlieblich – die neue Mädchensprache

Eine Schlagzeile der Stuttgarter Nachrichten (22.9.09) lässt aufhorchen: „Mädchen lassen immer öfter die Fäuste sprechen.“ Abgesehen von der immer noch etwas gewöhnungsbedürftigen Steigerung von „oft“ ist der Inhalt dieses Satzes bemerkenswert. Frauen und Mädchen, üblicherweise die Opfer von Männergewalt, schlagen zurück und attackieren – im beschriebenen Fall ohne ersichtlichen Grund – einen älteren Mann. Der Einzelfall sei gar keiner, berichtet die Zeitung; hier zeige sich ein Trend. Werteverlust und Alkoholkonsum führten zu einer Zunahme weiblicher Gewaltakte.

Dabei hat sich die Zeitung zu einer eher freundlichen Formulierung entschlossen. Man vermeidet das Wort „Gewalt“ und wählt eine – bisher wenigstens – positiv besetzte Metapher: sprechen lassen. Wir erinnern uns an die Fleurop-Werbung „Lasst Blumen sprechen!“ Dass man das Herz oder die Seele sprechen lässt, ist durchaus üblich. Auch Bilder oder Zahlen lassen manche gerne sprechen, Erfolge oder Taten, meinetwegen auch Tore, könnte man sprechen lassen, aber Fäuste?

Die Sprache der Gewalt sei manchmal die einzige Sprache, die verstanden wird, liest man gelegentlich. Dennoch habe ich bei den „sprechenden“ Fäusten meine Probleme. Ist das Attackieren, das Zuschlagen wirklich eine Sprechhandlung? Oder ist es nicht eher der Ausdruck einer Sprachlosigkeit, einer Unfähigkeit, sich verbal mit anderen Menschen auseinanderzusetzen. In der Schule jedenfalls ist das Erste, was man schlagenden Kindern und Jugendlichen vermittelt, dass sie miteinander sprechen sollen.

Es spricht einiges dafür, diese Haltung auch den mit ihren Fäusten sprechenden Mädchen anzuempfehlen. Allerdings fragt man sich, welche Sprache sie überhaupt noch verstehen.

4 Antworten auf „Unlieblich – die neue Mädchensprache“

Paul Watzlawick, der Kommunikationstheoretiker, fällt mir ein. Sein erstes Axiom: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Das zweite: „Jede Kommunikation hat einen (vorrangig digitalen) Inhalts- und einen (vorrangig analogen) Beziehungsaspekt, wobei Letzterer den Ersteren bestimmt (und besonders im Nonverbalen zum Ausdruck kommt; Klammern, Nana)“, in der Körpersprache, natürlich auch im Tonfall und in der Melodie der Stimme.

Wie ist bei der Sprache der Gewalt, den schlagenden Fäusten, die von Unfähigkeit zur Verbalisierung zeugen? Sie will Endgültigkeit, Eindeutigkeit, Überlegenheit kommunizieren. Von dem, der hilflos geschlagen wird, muss das so verstanden werden, für ihn dominiert ebenfalls das Digitale. Ohne Fähigkeit zur Verbalisierung ist auch die analoge Kommunikation ungenügend entwickelt oder gefährdet.

Dennoch gibt es, gerade wo die Sprache fehlt, neben der direkten eine indirekte Kommunikation. Der Hirnforscher Detlev Linke hat von ihr gesagt, sie sei zwischen Menschen häufig die bedeutsamere, zum Beispiel zwischen Kindern und Eltern. Sie besteht im Zeigen und bedarf möglicherweise eines verbalisierenden Interpreten. Doch man muss ein Hofmannsthal sein, der sich den Sprachlosen und dem Thema der Sprachlosigkeit lebenslang verschrieben hat, um Worte zu finden wie: „Ich lächle dir zu in deine Einsamkeit. Dein Gebet ist nicht ohne Kraft, wenn du auch die Hände ballst anstatt die Hände zu falten.“

Ich stelle mir vor, dass bei der Sprache der Fäuste immer noch etwas anderes dabei ist. Wer schlägt, schaut auch – böse, verachtend, giftig lachend -, schreit vielleicht herum und wirft am Schluss einen Blick auf den Niedergeschlagenen. Und der sieht das auch. Beim Gebrauch der Fäuste geht es um Machtausübung, um ein Demonstrieren von Überlegenheit. Es wird also nicht reichen, den unlieblichen Mädchen ein verbales Sprachvermögen zu vermitteln. Sie müssen auch darüber nachzudenken lernen, warum sie so mächtig sein wollen und warum ihnen ein hilflos auf dem Boden Liegender Vergnügen und Lust bereitet.

Der Einsatz von Gewalt ist nur in manchen Fällen ein Wunsch sich
auszudrücken. Es geht oft um einen Machtbeweis, um Stressabbau, um Langeweile oder um eine Vorbereitung für etwas anderes wie Diebstahl und Erpressung. Da hilft auch reden nicht viel, nur die Verdeutlichung, dass man diesen Kampf gegen den Staat und die Gesellschaft nicht gewinnen kann.

An Boris: Können die Schläger den Kampf gegen die Gesellschaft wirklich nicht gewinnen? Schön wäre es, doch der Glaube daran will sich bei mir nicht so recht einstellen. Die Täter vom S-Bahnhof Stadtmitte in Stuttgart wurden trotz installierter Videoüberwachung nicht gefilmt – die Kamera schaltet sich erst ein, wenn man vorher irgendeinen Notknopf betätigt hat. Hat man aber nicht. Das in einer Böblinger Unterführung zusammengeschlagene Schweizer Ehepaar wird vermutlich auch nicht die Genugtuung einer Bestrafung der Schuldigen erleben. Hier gibt es gar keine filmische Überwachung.
Ob sie nun ihre Macht zeigen, ihren Stress abbauen, etwas gegen ihre Langeweile tun wollen oder sonst allerlei im Schilde führen – die Gewaltbereiten fühlen sich derzeit offenbar ziemlich sicher. Leider.

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