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Kirche

Friedliche Protestanten

Unter den evangelischen Pfarrern kreist eine Unterschriftenliste. Wer unterschreibt, bekennt sich gegen die Lieferung von Waffen an die Ukraine. Das sei mit dem Evangelium nicht vereinbar. Jesus habe die Gewaltlosigkeit propagiert. Selig seien die Friedfertigen, wahre Christen also Pazifisten. Solches Denken und Glauben ist ehrenhaft. Wer, wenn ihm jemand auf die eine Backe schlägt, die andere hinhält, kann beim Schläger möglicherweise einen Prozess des Nachdenkens auslösen. Auf die Ukraine übertragen würde hieße das: Das Land soll sich ohne eigene Gewalt der russischen Gewalt beugen, in der Hoffnung, dass Putin, beeindruckt von dieser friedlichen Geste, seine Eroberungsgelüste aufgibt. Dieser Gedanke hat etwas Betörendes. Die Gewalt gibt sich der Gewaltlosigkeit geschlagen. Wenn man dieses Experiment machte und sich die Ukrainer so verhielten, wäre das Risiko allerdings groß, dass sich der russische Präsident ob solch eines leichten Sieges die Hände reiben und stracks sein nächstes Ziel, das Baltikum, anvisieren würde. Unsere ehrenwerten Pastorinnen und Pastoren geben auf diese Frage keine Antwort. Sie blenden auch aus, dass in der neutestamentlichen Ethik das Eintreten für die Schwächeren gefordert wird. Wenn man sich fromm heraushält, wenn der Starke den Schwachen unterdrückt, macht man sich mitschuldig. Hätte David gegen Goliath keine Schleuder einsetzen dürfen? Sollen wir uns als Christen künftig nicht mehr wehren? Gewiss, Waffenlieferungen bedeuten die Verlängerung des Krieges. Aber seine Verkürzung durch die Niederlage des Angegriffenen zu fordern, mutet merkwürdig an. Es wäre an der Zeit, dass in der evangelischen Kirche über dieses Dilemma offen diskutiert würde. Dass man Unterschriftenlisten kreisen lässt, ersetzt den Dialog nicht.

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Politik

Schwächelnde Grundschüler

Das Nomen in der Überschrift ist ein generelles, also die weiblichen und männlichen Zöglinge betreffendes Nomen. Aber diese Deutung wird von einer aggressiven Minderheit vehement als nicht gendergerecht und frauenfeindlich angeprangert. Um also nicht der Feme anheimzufallen, korrigiere ich die Deutung des Hauptworts und verstehe es als männliche Form. Das trifft auch die Wirklichkeit, denn mit dem als Attribut gebrauchten Partizip „schwächelnd“ sind in der Tat mehr die Knaben gemeint. Den Viertklässlern unter ihnen bescheinigt die neueste Qualitätsstudie in der Tat mangelnde Leistungen im Hören, Lesen, Schreiben und Rechnen. Also in allem, was ihnen die Grundschule eigentlich hätte vermitteln sollen. Hat sie aber nicht. Ihre Ausreden sind bekannt: Es gibt zu viele Kinder mit Migrationshintergrund in den Klassen, es gibt zu wenig Lehrerinnen und Lehrer pro Klasse und es war Corona. Damit sieht sich das System Grundschule offenbar aus dem Schneider. Schicksalhafte Einflüsse haben verhindert, dass sie ihre Aufgabe erfüllen konnte. Und was folgt daraus: Es wird sich nichts ändern, denn die schicksalhaften Faktoren werden weiter bestehen. Was die baden-württembergische Kultusministerin zu diesem Thema bisher geäußert hat, lässt wenig Hoffnung. Man müsse sich der Probleme annehmen. Ach ja. Das wissen wir eigentlich schon lange. Und es wäre zu fragen, was man denn getan hat, um sich der Probleme anzunehmen. Häckerling würde gerne den Blick auf einen weiteren Aspekt lenken: Könnte es sein, dass die didaktischen Konzepte der Grundschule nicht der Situation angemessen sind? Könnte es sein, dass die Sprachförderung in den Kitas den Namen nicht verdient, dass sie zumindest von nur mäßigem Erfolg ist? Ich plädiere für mehr Konsequenz in der Durchsetzung der Ziele: Die Vermittlung der deutschen Sprache muss Kernaufgabe in der Kita sein. Und Kinder mit Defiziten werden verpflichtet, an entsprechendem Förderunterricht teilzunehmen. Das Land muss aus den Startlöchern kommen und seine Politik der Einstellung von Lehrer*innen auf den Prüfstand stellen. Da wäre einiges zu tun. Im internationalen Vergleich ist unser Schulsystem unterfinanziert.

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Geschichte Literatur

Hundertjähriger Zeitblick

In der gehobenen Literaturkritik gilt Isabel Allende als „Königin des Kitsches“. Nur das „Geisterhaus“ findet verbreite Anerkennung. „Violeta“ (Roman 2022. Verlag Suhrkamp) hat die Autorin im Alter von 80 Jahren geschrieben. Die Titelheldin ist zugleich die Ich-Erzählerin. Sie ist 20 Jahre älter als ihre Autorin. Hundertjährig schreibt sie für ihren Enkel Colito ihr Leben auf. Die Sprache des Romans ist eher schlicht. Mit wenigen Strichen wird die Landschaft Südamerikas gezeichnet. Umbrüche im Leben und in der Gesellschaft ihres Landes werden eher beiläufig berichtet. Welches Land die Autorin genau meint, bleibt im Unklaren, die geschilderten politischen Skandale passen auf mehrere Staaten Lateinamerikas. Dort hat die Demokratie wenig Chancen. Autoritäre Regime führen ein Schreckensregiment. Menschen werden verschleppt, gefoltert, getötet, die Angehörigen über ihren Verbleib in Unkenntnis gelassen. Violeta ist während der Grippe-Epidemie 1920 geboren. Sie führt zunächst ein unpolitisches Dasein. Die einst wohlhabende Familie del Valle verarmt als Folge einer Wirtschaftskrise. Der Vater bringt sich um. Die Hinterbliebenen ziehen sich aufs Land zurück. Dort nimmt man die Del Valles wohlwollend auf. Violeta lebt dort in einfachen Verhältnissen. Sie heiratet einen Deutschstämmigen, den sie nicht liebt, brennt mit einem attraktiven Windhund durch und bekommt zwei Kinder von ihm. Zusammen mit ihrem Bruder führt sie eine erfolgreiche Firma, die sich auf Fertighäuser spezialisiert hat. Vor allem nach Erdbeben machen sie gute Geschäfte. Der Sohn Juan driftet in die linke Szene ab und muss das Land verlassen. Die Tochter Nieves entwickelt sich zum Ebenbild des Vaters. Sie lebt unstet, gerät in die Drogenszene und bekommt einen Sohn, besagten Colito, dem Violeta später ihre Leben erzählt. Dann stirbt Nieves an den Folgen ihrer Sucht. Violeta übernimmt als Großmutter die Mutterrolle. Sie hat eine soziale Ader und tut viel Gutes. Im Coronajahr 2020 stirbt sie. Ein ambitionierter Roman, dem es recht gut gelingt, 100 Jahre Zeitgeschichte anschaulich zu machen.