Kategorien
Gesellschaft

Irrelevantes Systemgerede

Einst waren es Banken, von denen behauptet wurde, sie dürften nicht kollabieren, weil sie sonst das ganze Finanzsystem in den Abgrund stürzen würden. Also hat man sie als systemrelevant mit öffentlichem Geld vor dem Bankrott gerettet. In diesen Virus-Zeiten wird das Adjektiv „systemrelevant“ Menschen angeheftet, Krankenschwestern und Pflegerinnen, Ärztinnen und Sachbearbeiterinnen, Polizistinnen und Kindergärtnerinnen. Weil sie systemrelevant sind, sollten sie besser bezahlt werden. Ohne sie kollabiere das System. Nichts gegen mehr Wertschätzung und gerne auch mehr Geld am Monatsende für diese Menschen. Aber der Ausdruck Systemrelevanz hat etwas brutal Technokratisches. Er kommt gespreizt daher und degradiert Menschen zu Elementen eines Systems. Warum sagen wir nicht, dass die Arbeit dieser Frauen (und auch Männer) wichtig ist, dass ohne ihre helfende Tätigkeit viel Leid entstünde, dass sie eine wichtige Leistung erbringen, ohne die unsere Gesellschaft zusammenbräche. Das Wort „System“ hat einen negativen Beigeschmack. Der Systemkritiker sieht sich im Widerstand gegen die zerstörerische Macht einer autoritären Staatsform. Im Übrigen sind nicht nur die oben Genannten, sondern noch viele andere Menschen mit ihrer Tätigkeit von großer Bedeutung für unser Land: Wissenschaftler, die nach Lösungen für schwierige Probleme suchen, Lehrkräfte, die sich aufreiben, um schwierigen Kindern etwas „beizubringen“, Techniker, die den öffentlichen Nahverkehr bei Störungen wieder zum Laufen bringen oder unsere Energiezufuhr sichern, Busfahrer, Eisenbahner, Müllwerker, Sozialarbeiter, die kaputten Familien oder Stadtvierteln helfen, Künstlerinnen und Künstler, die auf ihre Weise der Gesellschaft zum Nachdenken verhelfen, Landwirte und Erntehelfer, die unsere Nahrung beschaffen, Geistliche, die Trost und Wegweisung geben, Politiker (natürlich beiderlei Geschlechts), die schwerwiegende Entscheidungen treffen … Ohne die hier Genannten und die viel zahlreicheren Ungenannten, könnte unser Staat (und seine diversen Systeme) nicht bestehen.

Kategorien
Gesellschaft Gesundheit

Schwedische Gelassenheit

Das verstehe, wer will. Ausgerechnet die Schweden, bekannt für ihren Sicherheitsfanatismus, nehmen den Schutz vor dem Coronavirus locker. In den Schulen wird unterrichtet, in der Gastronomie bedient, in den Kinos kann man Filme sehen. Zur Begründung heißt es, die Schweden setzten traditionell auf Freiwilligkeit und Einsicht. Der Rat in diesen Zeiten lautet: Wer sich schützen will, soll sich schützen, wer sich krank fühlt, soll zu Hause bleiben. Man nehme eine kontrollierte Ausbreitung des Virus bewusst in Kauf, heißt es. Wir wissen nicht, ob die Schweden mit dieser Strategie auf die Nase fallen werden. Erst in ein paar Wochen wird sich zeigen, ob ihr Weg ein fahrlässiger Irrweg ist oder ob die schwedische Freiwilligkeit eine Alternative zu unserer strengen mit Bußgelddrohungen begleiteten Kontaktsperre gewesen wäre. Was soll man sich wünschen? Dass auch uns ein wenig schwedische Gelassenheit gegeben wäre oder dass der deutsche Weg der bessere gewesen sein wird? Wie gut, dass unsere Sprache über das Futur 2 verfügt.

Kategorien
Gesellschaft Kirche

Alltäglicher Tod

Wenn nicht an diesem letzten Tag der Karwoche, an dem manche ans Sterben Jesu denken, wann sonst ist es geraten, sich über das den Tod Gedanken zu machen? Zumal der Tod angesichts der Seuche gerade besonders in den Blick gerät. Am Anfang stehe eine unbestrittene Zahl: 2.500. Das ist die durchschnittliche Zahl der Toten in Deutschland – pro Tag. Ständig sterben Menschen. An Unfällen, an Krankheiten, an Altersschwäche. Darüber regt sich niemand auf. Das ist Alltag. Wer auf Friedhöfe geht, sieht die frischen Gräber. Warum also ist der Tod durch die Corona-Pandemie so ein Thema? Es kann nicht die Zahl der Gestorbenen sein, denn die Opfer von Covid-19 wirken sich auf die Statistik kaum aus. Häckerling vermutet, dass dem Virus etwas gelungen ist, was sonst weder der Unfalltod noch das Sterben an Krebs hinbekommt: dass wir uns mit dem Tod auseinandersetzen. Er wird uns über die Medien frei Haus geliefert. Es ist ein anderes Sterben als das in den Kriminalfilmen. Beim Tatort-Toten wissen wir, dass er fiktiv ist, beim Corona-Toten gelingt es uns nicht, ihn aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Was für ein Schauer läuft uns über den Rücken, wenn wir die Särge in Italien, Spanien und nun in den USA sehen? Ein bisschen Erleichterung, ja Zufriedenheit und vielleicht auch Stolz stellt sich, wenn wir erfahren, dass unser System offenbar erfolgreicher im Verhindern des Erstickungstodes ist. Aber auch er findet statt, in manchen Altersheimen oder Kirchengemeinden. Bisher herrschte die übereinstimmende Meinung vor, der Tod werde verdrängt. 2500 Leichen am Tag lassen uns kalt, aber diese besonderen Toten, die Opfer eines vor Kurzem noch unbekannten Virus, sie rücken in unser Bewusstsein, die erinnern uns an die eigene Sterblichkeit, von der wir in der Regel nichts wissen wollen. Passt hier das Diktum vom Guten im Schlechten?