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Georgische Wirren

In Nino Haratischwilis Roman „Das mangelnde Licht“ (2022, Frankfurter Verlagsanstalt) geht es um vier Freundinnen, die im Tiflis der 1990er Jahre aufgewachsen sind: Nene hat Freude an Männern, Ira ist sehr klug und lesbisch, findet aber bei Nene kein Gehör, Dina ist mutig und eine begabte Fotografin, Keto ist die Vermittelnde in diesem Quartett. Sie leidet unter den familiären Spannungen und den Konflikten zwischen den Freundinnen. Sie ritzt sich, um sich durch Schmerzen zu entlasten. Keto erzählt aus dem Abstand von 30 Jahren die Geschichten der vier jungen Frauen. Die wären normaler verlaufen, wenn sie nicht in Georgien während der postsowjetischen Wirren nach 1991 gelebt hätten. Georgiens Weg in die Selbstständigkeit war schwierig. Warlords und Gangs regierten. Präsident Schewardnaze gelang es nicht, das Land zu stabilisieren. Die Russen verfolgten ihre Interessen. Die Brüder der Mädchen geraten in mafiöse Verwicklungen. Der Heroinhandel bietet ihnen die Chance, reich zu werden. Die jungen Frauen werden zu Schachfiguren der Männerwelt. Es kommt zu Streit, zu gewaltsamen Todesfällen. Das Land wirtschaftet ab; der Hunger nimmt zu. Hoffnungslosigkeit breitet sich aus. Dina reüssiert als Journalistin und Fotografin. Sie liebt Ketos Bruder Rati und versucht vergeblich ihn aus den Fängen der Sucht befreien. Verzweifelt ob der privaten und politischen Situation bringt sie sich um. Die Freundinnen verstehen diesen Freitod nicht. Jahrzehnte später treffen sie sich in Brüssel. Eine Ausstellung mit Fotos von Dina, die Georgiens schwere Zeiten und ihre Freundschaft dokumentiert, wird eröffnet. In dieser Brüsseler Nacht gelingt es ihnen, das zur Sprache zu bringen, was lange als Last und Schuld zwischen ihnen gestanden hat. Nino Haratischwili verbindet in diesem eindringlich erzählten Roman die Verletzungen ihrer Heimat Georgien mit denen der vier Frauen.

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Digitale Wunschreligion

Der Plan in Tahmima Anams Roman „Unser Plan für die Welt“ (erschienen 2022 bei Hoffmann und Campe) besteht darin, die religiösen Bedürfnisse der Menschen zu stillen. Die App wendet sich nicht an jene, die fest in einer Religion verankert sind, sondern an die Suchenden, die Unentschlossenen. Manchen gefällt ein Brauch im Christentum und zugleich ein buddhistischer Kult. Sie finden im Islam Riten, die ihnen etwas bedeuten, und Gedanken und Bilder in der Kultur, die sie bewegen. Religion, Musik, Bildende Kunst oder Literatur, Philosophie oder Ethnologie liefern die Bausteine, die den Nutzern je nach Interesse digital „angeboten“ werden. Programmiert wurde das Ganze von Asha, die mit der Autorin ihre Herkunft aus Bengalen gemeinsam hat. Das „Material“ für den Algorithmus liefert Cyrus, ein belesener Charismatiker. Die beiden heiraten. Ihr Konzept hat großen Erfolg, ihre Ehe nicht. Offenbar treffen sie den Nerv jener Menschen, die sich nicht mehr mit dem Oberflächlichen der sozialen Medien zufrieden geben wollen. Aber als sie in ihr Projekt auch noch ein Programm aufnehmen, das eine Art „Kommunikation“ zwischen Lebenden und Toten ermöglicht, kommt es zu einer Katastrophe, die Ashas und Cyrus‘ Werk zu zerstören droht. Tahmima Anam hat in den USA studiert und lebt in Großbritannien. Sie erzählt flott und mit viel Humor. Zugleich stellt ihre Geschichte grundsätzliche Fragen zum Umgang mit der Religion und dem Tod in einer Zeit zunehmender Bedrohung. Die Erzählung endet 2020 mit dem Beginn der Pandemie, deren Auswirkungen die Autorin mit großer Skepsis entgegensieht. Anams literarische Stimme verdient Gehör.

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Kultureller Kahlschlag

An Klagen und Warnungen der Betroffenen fehlt es nicht. Der kulturelle Kahlschlag trifft jene besonders hart, die spielen, singen, tanzen, schreiben oder vorlesen. Sie haben ein Berufsverbot, dürfen nicht auftreten, können nicht zeigen, was sie können. Es heißt zwar, es gehe nur um den November, aber wer glaubt schon, dass wir im Dezember zu den harmlosen sommerlichen Infektionszahlen zurückgekehrt sein werden? Also gebe ich den Lauterbach: Auch im letzten Monat des Jahres 2020 droht die Aushebelung aller Kulturveranstaltungen. Wie immer, wenn die Politik etwas beschließt, ist es „alternativlos“ und „verhältnismäßig“. Wie soll man sonst, sagen die Verantwortlichen, die Ansteckungen in den Griff bekommen? Aber die Prioritäten sind nur teilweise nachvollziehbar: Schulen und Kitas bleiben in Betrieb (einverstanden), Handwerk und Industrie arbeiten (wohl oder übel, wer soll sonst das viele Geld schöpfen, das der Saat so großzügig verteilt?), den Einzelhandel wollen wir alle nicht missen (wir brauchen Spaghetti und Pizzen, Mehl und Hefe, Gurken und Salami). Geschlossen wurden die Gaststätten – warum eigentlich? Nun speisen die Menschen, einschließlich ihrer Gäste, eben zu Hause, und zwar ohne Abstand. Die Hotels haben zu – Reisen schafft Kontakte, gewiss, aber Menschen, die nicht reisen, sondern zu Hause aufeinander hocken, haben auch Kontakte. Auf die Kultur, so meinen die Entscheider, kann man am ehesten verzichten. Kino? Wir haben doch das Fernsehen. Oper, Theater, Konzerte? Ist sowieso nur für Privilegierte. Lesekreise? Jeder kann doch zu Hause alleine lesen. Zirkus? Dort leiden die Tiere, also verzichtbar. Häckerling findet, dass eine Gesellschaft, die ihre Kultur so behandelt, ihre Existenzberechtigung aufs Spiel setzt. Nicht einmal in den KZ wurde die Kultur ganz gestrichen. Also keine Kontaktbeschränkungen? Doch, aber zielgenauere, die dort ansetzen, wo die Hotspots keimen.