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Europa

Nach dem Krieg, den Deutschland 1939 entfesselt hat, zogen durch Europa Millionen von Flüchtlingen, die man damals auch „Vertriebene“ nannte. Wenn sie hierzulande ankamen, waren sie wenig willkommen. Sie erweckten Ängste um den eigenen Besitz, hatten eine andere Konfession – für Protestanten waren Katholiken einst der Horror schlechthin und umgekehrt – und sie brachten andere Bräuche mit. Unsereins war kein Flüchtling, aber in meiner Heimatgemeinde gab es „verdächtige Menschen“ in den Lagern am Rand der Kommune. Man mutmaßte, dass sie stahlen. Auch rochen sie schlecht. Der Schüler H. gab seinen Eltern die Mitschuld am Krieg und dessen Folgen. Aber er hatte eine Hoffnung: Europa. Die wurde auch offiziell genährt. Und die europäische Einigung ließ sich auch nicht schlecht an. Über die Wirtschaftsunion kam man sich näher. Es schien sich eine Wertegemeinschaft zu entwickeln. Die europäischen Verträge jedenfalls nährten diese Vision. Daran in der Gegenwart noch zu glauben, fällt zunehmend schwerer. Der Ungar O. spricht von seinem „tausendjährigen christlichen Reich“ und knüppelt alle Fremden nieder. Die Ostländer, die gerne die Hand aufhalten, um Fördergelder einzustreichen, sehen sich außer Stande, auch nur einen einzigen Flüchtigen aufzunehmen. Offenbar wirkt nicht nur der nationalistische Faschismus nach, sondern auch der überwunden geglaubte Kommunismus, der sich einst als Humanismus gerierte und doch nichts anderes war als ein brutales Ausbeutungssystem. Europa hat versagt bei der Prävention der Flüchtlingskrise versagt, es versagt auch jetzt bei ihrer Bewältigung. Eine Hoffnung meiner Jugend zerbröckelt.

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Kriechenland

Eine schwierige Scharade war das damals auf der Jugendfreizeit: Zwei Personen schreiten durch den Raum, dahinter rutschen zwei andere auf den Knien. Die Lösung lautete : die letzten Griechen. Rückblickend sehe ich darin ein makabres Rätsel, aber mit der politischen Korrektheit nahm man es Ende der 1950er Jahre nicht so genau. Dass derzeit nicht nur die letzten, sondern ein beträchtlicher Anteil von Griechen auf Knien rutschen, auf dem Zahnfleisch daherkommen oder – um ein weiteres Bild zu bemühen – aus dem letzten Loch pfeifen, wissen wir alle, aus den Berichten der Medien oder aus den Romanen von Petros Markaris. Es gibt auch Griechen, denen es gut geht; einem Bericht der ZEIT über einen Händler mit Schweizer Steuerdaten ist zu entnehmen, dass dort immense Summen aus Hellas lagern. Was wir auch alle wissen: Griechenland hat weder beim Beitritt zur EU noch bei der Einführung des Euro die verlangten Kriterien erfüllt. Trotzdem gehört es beiden Klubs an. Und noch etwas wissen wir: Auch einem insolventen Griechenland wird Europa helfen müssen. Das Schlimmste an den Abendnachrichten vom 27. Juni war, dass man die Ratlosigkeit der politisch Verantwortlichen überdeutlich spüren konnte: Enttäuschung, Übermüdung, Frustration wurden nicht mehr überspielt. Aber wenn unsere wichtigsten Akteure auf der europäischen Bühne ihr Scheitern eingestehen müssen, stellt man sich schon die Frage: Wer soll uns aus dem Schlamassel herausführen? Gewiss: Die griechische Regierung hat sich verzockt, aber die anderen, sie haben es auch verbockt. Wenn etwas schiefgeht, tragen immer alle daran Beteiligten die Verantwortung.

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Deutschland und der 17. Juni

Die Überschrift erinnert an eine Zeit, in der alles noch an seinem Platz war. Wir hatten Angst vor einem Krieg, aber das „Gleichgewicht des Schreckens“ hat uns – das darf man auch als Kriegsdienstverweigerer im Rückblick zugeben – vor ihm bewahrt. Wir haben am 17. Juni an den Volksaufstand in der DDR gedacht, uns mit den „Brüdern und Schwestern“ jenseits des Eisernen Vorhangs wenigstens einen Tag lang solidarisch gefühlt, ansonsten uns aber des bundesrepublikanischen Wohlstands erfreut. Wir haben über viele Probleme gejammert: die Inflation, die zunehmende Arbeitslosigkeit, die steigende Zahl von Verbrechen, die Asylanten, den Verlust des gymnasialen Niveaus durch die wachsende Übergangsquoten.

Wenn wir uns daran erinnern, müssten wir ins Lächeln kommen. Drei Beispiele: Der SPD-Politiker Schmidt sagte einmal: „Lieber 5% Inflation als 5% Arbeitslosigkeit.“ Wie klingt das heute? Die Übergangsquote aufs Gymnasium näherte sich in Sindelfingen den 35%; derzeit liegt sie bei 59%. Was ein Asylant ist, weiß heute keiner mehr so recht, heute reden wir von Migranten. Einst ging es um ein Dutzend Asylbewerber je Gemeinde, heute in manchen Schulklassen um Migranten-Anteile von über 50%

Am heutigen 17. Juni soll sich in Griechenland entscheiden, ob oder wie es mit Europa weitergeht, in Frankreich werden die Sozialisten gewinnen und der unbeliebten Sparpolitik den Garaus machen und die Kanzlerin kann sich schon mal überlegen, ob sie Europa „um jeden Preis“ retten soll (was „die Welt“ von ihr erwartet) oder ihre schützende Hand auf die Staatskasse legen (was eine Mehrheit der Deutschen von ihr erwartet). Recht machen wird sie es keinem. Europa steht vor dem Abgrund, sagen die Auguren. Können wir ihn balancierend überwinden wie vorgestern der Artist die Niagara-Fälle?