Kategorien
Gesellschaft Gesundheit Politik

Ungezügelte Ungeduld

Die Corona-Routine trügt. Zwar kann man sich das Fernsehprogramm ohne die täglichen Extra-Sendungen nach den Nachrichten, Talkshows ohne Virus-Diskussionen, den Samstag ohne Bundesligaberichte und die Aufmunterungen nach dem Muster „Bleiben Sie gesund“ kaum mehr vorstellen, aber man spürt trotzdem eine zunehmende Gereiztheit. Der tägliche Zahlenreport (Neuinfizierte, Tote, R-Wert) signalisiert Entspannung, aber die wird durch allerlei Drohungen („zweite/dritte Welle“) konterkariert. Eigentlich dürften Kinder wieder in die Kitas, aber selbst der sonst so sanfte Sindelfinger OB reagiert gereizt. Wie kann man ohne eine entsprechende Verordnung so etwas verantworten? Schuldzuweisungen haben Konjunktur. Täglich wird jemand identifiziert, der versagt oder die Krise beflügelt: den Gesundheitsämtern fehlt das Personal, die Virologen sind sich nicht einig, der Gesundheitsminister will die deutschen Menschen unterdrücken, der Finanzminister hat offenbar nur darauf gewartet, endlich die „Reichen“ zur Kasse bitten zu können, Bill Gates hat die Absicht, große Teile der Menschheit zu vernichten, die Chinesen haben uns das alles eingebrockt, Merkel muss weg, das RKI verwickelt sich in Widersprüche, Italien/Spanien/Griechenland stehen vor der Insolvenz und brauchen dringend Geld von uns, „die Politik“ ist schuld am Niedergang der Autoindustrie, der Kultur, des Tourismus, des Gesundheitssystems und damit an der steigenden Arbeitslosigkeit, Palmer will die Alten sterben sehen, die Grünen sind ratlos, die FDP agiert verantwortungslos … Der schwarze Peter kreist so schnell, dass man wirklich nicht mehr weiß, bei wem er gerade ist.

Kategorien
Gesellschaft Literatur Politik

Sprachliche Wolkenbildung

Krisen schlagen sich auch in Sprache und Literatur nieder. Wer noch keinen Virus-Sciencefiction-Roman geschrieben hat, tut gut, sich schnell an seinen Schreibtisch zu setzen, damit das Werk bald auf den Markt kommen kann. Dabei wird es schwer werden, mit Camus‘ „Pest“ zu konkurrieren, einem Zukunftsroman, der in der Vergangenheit spielt und an philosophischer Reflexion einiges zu bieten hat. Auch die Sprache der Politik schwingt sich zu immer neuen metaphorischen Höhen auf. Es gibt – grob eingeteilt – zwei Gruppen: die eine besteht aus Menschen, die uns „über den Berg“ sehen und „Lockerungen“ wollen, die andere aus jenen, die das Schlimmste befürchten. So stehen wir in der Sicht von Frau Merkel erst am „Anfang der Pandemie“. Wenn wir jetzt locker lassen, riskieren wir unsere bisherigen Erfolge. Die Kanzlerin ist in „großer Sorge“. Sie sieht uns auf „dünnem Eis“, also in der ständigen Gefahr „einzubrechen“ und „unterzugehen“. Das erinnert an Kassandra, die den Untergang Trojas kommen sah und auch verkündete, auf die aber nicht gehört wurde. Aus der Rückschau betrachtet, hatte Kassandra Recht. Unser Problem ist, dass wir vielen Stimmen ausgesetzt sind, aber nicht wissen, welche am Ende die richtige Stimme gewesen sein wird. Sind es die virologisch getränkten Stimme des Robert-Koch-Instituts, werden die Kassandra-Rufe der Kanzlerin berechtigt gewesen sein oder stimmen die Einlassungen der „Forschen“, der nach Freiheit Gierenden, derer, die die „Gängelung“ der Wirtschaft beenden wollen, zu denen auch der US-Präsident gehört? Oder sollen wir mehr auf die immer neuen Verlautbarungen der Wissenschaftler hören? Aber zu deren sprachlichen Regeln gehört es, dass eine Äußerung nur so lange als richtig gilt, bis sie widerlegt ist. Alle reden, keiner kennt die Wahrheit. Vielleicht wartet „hinter dem Berg“ bereits die nächste Pandemie, vielleicht lassen wir uns aber auch nur „verrückt machen“. Wer weiß?

Kategorien
Gesellschaft

Irrelevantes Systemgerede

Einst waren es Banken, von denen behauptet wurde, sie dürften nicht kollabieren, weil sie sonst das ganze Finanzsystem in den Abgrund stürzen würden. Also hat man sie als systemrelevant mit öffentlichem Geld vor dem Bankrott gerettet. In diesen Virus-Zeiten wird das Adjektiv „systemrelevant“ Menschen angeheftet, Krankenschwestern und Pflegerinnen, Ärztinnen und Sachbearbeiterinnen, Polizistinnen und Kindergärtnerinnen. Weil sie systemrelevant sind, sollten sie besser bezahlt werden. Ohne sie kollabiere das System. Nichts gegen mehr Wertschätzung und gerne auch mehr Geld am Monatsende für diese Menschen. Aber der Ausdruck Systemrelevanz hat etwas brutal Technokratisches. Er kommt gespreizt daher und degradiert Menschen zu Elementen eines Systems. Warum sagen wir nicht, dass die Arbeit dieser Frauen (und auch Männer) wichtig ist, dass ohne ihre helfende Tätigkeit viel Leid entstünde, dass sie eine wichtige Leistung erbringen, ohne die unsere Gesellschaft zusammenbräche. Das Wort „System“ hat einen negativen Beigeschmack. Der Systemkritiker sieht sich im Widerstand gegen die zerstörerische Macht einer autoritären Staatsform. Im Übrigen sind nicht nur die oben Genannten, sondern noch viele andere Menschen mit ihrer Tätigkeit von großer Bedeutung für unser Land: Wissenschaftler, die nach Lösungen für schwierige Probleme suchen, Lehrkräfte, die sich aufreiben, um schwierigen Kindern etwas „beizubringen“, Techniker, die den öffentlichen Nahverkehr bei Störungen wieder zum Laufen bringen oder unsere Energiezufuhr sichern, Busfahrer, Eisenbahner, Müllwerker, Sozialarbeiter, die kaputten Familien oder Stadtvierteln helfen, Künstlerinnen und Künstler, die auf ihre Weise der Gesellschaft zum Nachdenken verhelfen, Landwirte und Erntehelfer, die unsere Nahrung beschaffen, Geistliche, die Trost und Wegweisung geben, Politiker (natürlich beiderlei Geschlechts), die schwerwiegende Entscheidungen treffen … Ohne die hier Genannten und die viel zahlreicheren Ungenannten, könnte unser Staat (und seine diversen Systeme) nicht bestehen.