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Apokalyptisches Szenario

Als ob er es geahnt hätte: Robert Harris schildert in seinem jüngsten Roman (erschienen im Heyne-Verlag) den Kollaps unseres Systems, aus der Sicht des Futur 2. Wie wird das gewesen sein, damals, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts? Der Roman „Der zweite Schlaf“ spielt im Mittelalter (1468) und zugleich in der Zukunft. Im Jahr 2025 – so die Fiktion – ist die hochtechnisierte Zivilisation zusammengebrochen. Der ganze Lebensalltag war damals nur noch elektronisch gesteuert. Daten und Programme, von denen alles abhing, lagerten in Clouds. Doch plötzlich funktionierte nichts mehr. Warum? Vielleicht war das System zu kompliziert geworden. Jedenfalls brach die Zivilisation, wie wir sie kennen, zusammen, die Menschen gerieten in Panik. Die Kirchen jener Zeit deuteten die Ereignisse als Weltuntergang und legten, dem letzten Buch der Bibel folgend, den Beginn einer neuen Zeitrechnung fest. Mit dem Jahr 666 (vgl. Offenbarung 13) begann eine andere Ära. Harris erzählt die Geschichte des jungen Priesters Fairfax, der in ein englisches Dorf geschickt wird, um den jüngst verstorbenen Pfarrer zu bestatten. Der war offenbar einer jener Ketzer, die trotz des Verbots der Kirche die Vergangenheit erforschten. Fairfax stößt auf Bücher, die von den Ereignissen vor über 800 Jahren berichten. Allmählich wird ihm klar, dass die Kirche aus eigenem Interesse ein System der Unterdrückung geschaffen hat. Fairfax beteiligt sich an Ausgrabungen, bei denen merkwürdige Dinge zum Vorschein kommen: Plastikteile, Reste von Fluggeräten, kleine Kästen, auf denen ein angebissener Apfel zu sehen ist. Es muss bei diesem „Weltuntergang“ furchtbar zugegangen sein. Eine Hungersnot brach aus. Die Menschen kämpften ums Überleben. Dabei gingen sie brutal und rücksichtslos vor. Jeder wurde sich selbst zum Nächsten. Die alte Gesellschaft, unsere heutige also, versank im Chaos. Harris zeichnet ein düsteres Bild unserer Gegenwart. Doch auch die neue Zeit wird nicht besser sein, meint er. Offenbar ändern sich die Menschen nicht.

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Politik

Historischer Augenblick

War Chamberlain naiv, weil er glaubte, bei der Konferenz in München (1938) den Frieden gerettet zu haben? Harris beschreibt den britischen Premierminister als einen Mann, dem die Vermeidung eines Krieges in Europa so wichtig war, dass er Hitler sogar in der Sudetenfrage weit entgegenkam. Dabei waren die Eroberungspläne des deutschen Diktators nicht nur unter Insidern bereits bekannt. Harris erfindet für seine Geschichte zwei Repräsentanten ihrer Länder, zwei Freunde aus Studententagen, den Briten Hugh Legat und den deutschen Aristokraten Paul von Hartmann. Sie nehmen als Delegierte an der Münchener Konferenz teil. Das bietet dem Erzähler die Möglichkeit, den Leser hinter die Kulissen der offiziellen Politik blicken zu lassen. Von Hartmann gehört zu einer Gruppe von Hitler-Gegnern. Er benutzt Legat als „Briefträger“. Ein geheimes Dokument soll beweisen, dass Hitler keinen Frieden will. Aber der Versuch, das Münchener Abkommen zu verhindern, scheitert. Chamberlain wehrt sich gegen diese Information, die seine Mission in Frage stellt. So kommt es zu der berühmten Wochenschauszene, in der er ein Papier schwenkt, das den Frieden sichere. Chamberlain wird dafür weltweit bejubelt. Dass der britische Premierminister selbst Zweifel am Erfolg des Abkommens hatte, deutet der Erzähler an. Harris gelingt es, die Spannung dieser Septembertage lebendig zu vermitteln. Die Fakten hat er wie immer sorgfältig recherchiert. Wir Heutigen wissen, dass die Weltgeschichte anders weiterging, als Chamberlain (und die damalige Welt) es sich erträumte. Die Katastrophe, die ein Jahr später begann, hätte nicht sein müssen. (Robert Harris: München. Roman 2017. Verlag Heyne)