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HH unplagged

Frau Helene Hegemann war mit ihrem Roman „Axolotl Roadkill“ für den Leipziger Buchpreis nominiert, aber sie hat ihn nicht bekommen. Trotzdem erregte sie reichlich Aufsehen. Wollte sie das? Darf sie das, darf sie überhaupt etwas wollen? Steuert sie die Prozesse, die sich mit ihr abspielen, oder wird sie gesteuert? Vom Verlag oder gar vom Vater? Dass sie kleine Teile eines fremden Textes benutzt hat, ohne dessen Herkunft zu kennzeichnen, ist eine eher lässliche „Sünde“. Manche sagen, schlimmer sei, dass ihr bei manchen Sätzen der Vater die Hand geführt habe. Als „Beweis“ wird der folgende zitiert; er steht in einem Artikel von Focus online (19.3.10):

„Ich reiße die Augen auf und versuche, mich an dem letzten kleinen Fünkchen realistischer Hässlichkeit festzukrallen, aber irgendeine Kraft übertrumpft mich, die nicht meine Wahrnehmung oder meinen Muskelkontraktionsimpuls außer Kraft setzt, sondern ausschließlich diesen abgefeierten, hundertjährigen Gutmenschenkonsens, unter dessen Schirmherrschaft sich jede lebendige Person seit ihrer Geburt an irgendeine Oberfläche zu kämpfen versucht.“

Ist das ein guter Satz? Würde er, wäre Helene Hegemann noch Schülerin, vom Deutschlehrer durchgewinkt oder mit roter Farbe überzogen? Häckerling tippt auf Letzteres. Man kann die Augen aufreißen, aber wie krallt man sich an einem „letzten kleinen Fünkchen“ von Hässlichkeit fest? Die doppelte Verkleinerung (mit Adjektiv und –chen) klingt überhaupt etwas merkwürdig. Und was unterscheidet eine „realistische“ (reale?) von einer unrealistischen (virtuellen?) Hässlichkeit? Allerdings leuchtet ein: Wäre sie unwirklich (unsichtbar?), diese Hässlichkeit, könnte sich die Ich-Erzählerin nicht an ihr festkrallen. Leichter fiele es ihr indes, sich nicht am Abstraktum, sondern an etwas konkret Hässlichem festzukrallen. Doch diese Anstrengung nützt ihr sowieso nichts. Denn es taucht „irgendeine Kraft“ auf, eine die ihr Krallen „übertrumpft“, und die – ja, was tut sie eigentlich? Sie setzt „meine Wahrnehmung“ und „meinen Muskelkontraktionsimpuls“ nicht „außer Kraft“ – ein bisschen viel an nicht stattfindender biologischer Physik. Aber was wird nun tatsächlich von der „Kraft“ außer Kraft gesetzt? Es ist der „Gutmenschenkonsens“. Ist hier der Konsens „unter“ oder „über“ den Gutmenschen gemeint? Jedenfalls ist der, erfahren wir, schon 100 Jahre alt, stammt also von 1910, und ist ziemlich „abgefeiert“. Unter seiner Schirmherrschaft kämpfen sich alle Geborenen („jede lebendige Person“ steht im Text, eine tote würde es wohl nicht schaffen) „an irgendeine Oberfläche“. Welche? Geht es um die Wasser- oder die Erdoberfläche oder um die Oberfläche der Gesellschaft?

Was ist nun der Sinn des Satzes? Die Erzählerin liebt Hässliches und hasst alle, die sich an die Öffentlichkeit drängen. Stammt der Satz vom Vater? Eher nein, der müsste ihr diesen Schwulst durchgestrichen haben. Häckerlings Rat: Frau Hegemann, unterwerfen Sie sich nicht „irgendeiner Kraft“, sondern bleiben Sie noch eine Weile unter der „Oberfläche“. Das kann Ihrem Schreiben nur guttun.

(Blog-Eintrag Nr. 167)