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Bedingungsloses Grundeinkommen

Hinter dem Begriff „Freiheitsgeld“ in dem gleichnamigen Roman von Andreas Eschbach (Lübbe-Verlag) versteckt sich das „Bedingungslose Grundeinkommen“, über das seit Jahren diskutiert wird. Eschbach erzählt eine Geschichte, die in den 2060er Jahren spielt. Alle Bewohner Europas bekommen das Freiheitsgeld. Worin besteht die damit gewonnene Freiheit? Jede und jeder kann ohne Arbeit einigermaßen leben, ein Hobby betreiben, sich künstlerisch betätigen oder auch einfach gar nichts tun. Wer allerdings arbeiten möchte, findet selten eine Stelle, denn die anfallende Arbeit wird von Robotern erledigt. Insofern hat das Freiheitsgeld einen befriedenden Einfluss. Wir erfahren, dass es in den 2030er Jahren eingeführt worden sei, als die Zahl der Arbeitslosen stark gestiegen war und soziale Unruhen Europa erschütterten. Politisch umgesetzt hat den Plan Kanzler Havelock. Der ist inzwischen über 90, aber geistig durchaus noch frisch. Doch dann wird er umgebracht und zeitgleich mit ihm ein bekannter Journalist. Offenbar hatte der alte Politiker zunehmend Zweifel am Sinn des Freiheitsgelds bekommen und wollte sich zusammen mit dem Journalisten öffentlich dagegen äußern. Dagegen hatten einige offenbar Bedenken. Die Einführung dieser Sozialleistung war eine Aktion der Reichen gewesen, die sich mit diesen Alimenten an die normalen Menschen die Ungestörtheit ihres Wohlstandslebens sichern wollten. Dabei zahlen sie kaum etwas dafür, denn das Freiheitsgeld wird überwiegend von denen finanziert, die tatsächlich noch Arbeit haben. Sie zahlen fast 80 Prozent Steuern. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein arabischstämmiger Polizist namens Ahmad Müller. Er kommt den Hintergründen des Freiheitsgeldes und damit auch den Mördern auf die Spur. Wird er etwas dagegen unternehmen können? Ganz nebenbei erzählt dieser Roman von den Folgen des Klimawandels und wie man sie bekämpft. Ein Lösungsansatz: weniger Menschen auf der Welt! Dieses Problem lässt sich unfruchtbar machende Arzneimittel lösen. Eschbach erzählt in „Freiheitsgeld“ eine unterhaltsame Geschichte und diskutiert zugleich ein interessantes sozialpolitisches Modell.

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Hundertjähriger Zeitblick

In der gehobenen Literaturkritik gilt Isabel Allende als „Königin des Kitsches“. Nur das „Geisterhaus“ findet verbreite Anerkennung. „Violeta“ (Roman 2022. Verlag Suhrkamp) hat die Autorin im Alter von 80 Jahren geschrieben. Die Titelheldin ist zugleich die Ich-Erzählerin. Sie ist 20 Jahre älter als ihre Autorin. Hundertjährig schreibt sie für ihren Enkel Colito ihr Leben auf. Die Sprache des Romans ist eher schlicht. Mit wenigen Strichen wird die Landschaft Südamerikas gezeichnet. Umbrüche im Leben und in der Gesellschaft ihres Landes werden eher beiläufig berichtet. Welches Land die Autorin genau meint, bleibt im Unklaren, die geschilderten politischen Skandale passen auf mehrere Staaten Lateinamerikas. Dort hat die Demokratie wenig Chancen. Autoritäre Regime führen ein Schreckensregiment. Menschen werden verschleppt, gefoltert, getötet, die Angehörigen über ihren Verbleib in Unkenntnis gelassen. Violeta ist während der Grippe-Epidemie 1920 geboren. Sie führt zunächst ein unpolitisches Dasein. Die einst wohlhabende Familie del Valle verarmt als Folge einer Wirtschaftskrise. Der Vater bringt sich um. Die Hinterbliebenen ziehen sich aufs Land zurück. Dort nimmt man die Del Valles wohlwollend auf. Violeta lebt dort in einfachen Verhältnissen. Sie heiratet einen Deutschstämmigen, den sie nicht liebt, brennt mit einem attraktiven Windhund durch und bekommt zwei Kinder von ihm. Zusammen mit ihrem Bruder führt sie eine erfolgreiche Firma, die sich auf Fertighäuser spezialisiert hat. Vor allem nach Erdbeben machen sie gute Geschäfte. Der Sohn Juan driftet in die linke Szene ab und muss das Land verlassen. Die Tochter Nieves entwickelt sich zum Ebenbild des Vaters. Sie lebt unstet, gerät in die Drogenszene und bekommt einen Sohn, besagten Colito, dem Violeta später ihre Leben erzählt. Dann stirbt Nieves an den Folgen ihrer Sucht. Violeta übernimmt als Großmutter die Mutterrolle. Sie hat eine soziale Ader und tut viel Gutes. Im Coronajahr 2020 stirbt sie. Ein ambitionierter Roman, dem es recht gut gelingt, 100 Jahre Zeitgeschichte anschaulich zu machen.

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Digitale Wunschreligion

Der Plan in Tahmima Anams Roman „Unser Plan für die Welt“ (erschienen 2022 bei Hoffmann und Campe) besteht darin, die religiösen Bedürfnisse der Menschen zu stillen. Die App wendet sich nicht an jene, die fest in einer Religion verankert sind, sondern an die Suchenden, die Unentschlossenen. Manchen gefällt ein Brauch im Christentum und zugleich ein buddhistischer Kult. Sie finden im Islam Riten, die ihnen etwas bedeuten, und Gedanken und Bilder in der Kultur, die sie bewegen. Religion, Musik, Bildende Kunst oder Literatur, Philosophie oder Ethnologie liefern die Bausteine, die den Nutzern je nach Interesse digital „angeboten“ werden. Programmiert wurde das Ganze von Asha, die mit der Autorin ihre Herkunft aus Bengalen gemeinsam hat. Das „Material“ für den Algorithmus liefert Cyrus, ein belesener Charismatiker. Die beiden heiraten. Ihr Konzept hat großen Erfolg, ihre Ehe nicht. Offenbar treffen sie den Nerv jener Menschen, die sich nicht mehr mit dem Oberflächlichen der sozialen Medien zufrieden geben wollen. Aber als sie in ihr Projekt auch noch ein Programm aufnehmen, das eine Art „Kommunikation“ zwischen Lebenden und Toten ermöglicht, kommt es zu einer Katastrophe, die Ashas und Cyrus‘ Werk zu zerstören droht. Tahmima Anam hat in den USA studiert und lebt in Großbritannien. Sie erzählt flott und mit viel Humor. Zugleich stellt ihre Geschichte grundsätzliche Fragen zum Umgang mit der Religion und dem Tod in einer Zeit zunehmender Bedrohung. Die Erzählung endet 2020 mit dem Beginn der Pandemie, deren Auswirkungen die Autorin mit großer Skepsis entgegensieht. Anams literarische Stimme verdient Gehör.