Was für ein kluges, raffiniertes Buch hat Juli Zeh uns da geschenkt! Sie stellt in „Corpus Delicti“ eine Zukunft vor, an der wir bereits intensiv arbeiten: eine Gesellschaft, in der die Gesundheit über allem steht. Die Menschen werden verpflichtet, sich gesund zu ernähren, Sport zu treiben, auf das Rauchen zu verzichten und ihre „Werte“ ständig kontrollieren zu lassen. Wer sich Abweichungen erlaubt, muss mit Sanktionen rechnen. Die Medien propagieren diese gesunde Welt so intensiv, dass niemand daran zu zweifeln wagt. Die Losung lautet: „Ein Mensch, der nicht nach Gesundheit strebt, wird nicht krank, sondern ist es schon.“
Die Geschichte, die Juli Zeh erzählt, spielt so etwa in der Mitte des 21. Jahrhunderts. Das lässt gelegentliche Rückblicke auf die furchtbare Zeit des 20. Jahrhunderts zu, als die Menschen noch über allerlei Leiden klagten. Natürlich gibt es auch Widerstand gegen den staatlichen Gesundheitsterror, unter anderem die Bewegung „Recht auf Krankheit“. Aber die wird gnadenlos unterdrückt. Die beiden Personen, an denen Zeh den Kontrast zur wunderbaren Welt der Gesundheit durchspielt, sind die Geschwister Moritz und Mia Holl. Der eine schafft es bis zum Märtyrer, der anderen wird diese Rolle verwehrt. Aber es geht ihr trotzdem schlecht: in ihrem Haus, wo man sich angepasst verhält, vor Gericht, wo man sie in jeder Hinsicht „vorführt“, und in den Medien, wo man schonungslos mit ihr abrechnet.
Die Geschichte wird mit feiner Ironie erzählt, in einer klaren, pointierten Sprache. Kein Roman soll „Corpus Delicti“ sein, obwohl ihn die Bibliothek unter Science-Fiction einordnet, sondern „Ein Prozess“. Es ist beides. Erschienen ist die Geschichte dieser leibfreundlichen und lebensfeindlichen Gesellschaft 2009 im Verlag Schöffling & Co.
(Blog-Eintrag Nr. 243)