Wer den Krieg in der Ukraine verstehen will, muss seine Vorgeschichte kennen. Der Harvard-Professor Serhii Plokhy erzählt in „Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine“ (2023) die Historie seines Landes kenntnisreich und ohne Schönfärberei. Dabei holt er weit aus. Wir erfahren, was zur Zeit der Griechen, Perser und Römer im Land zwischen Donau und Dnipro geschah, welche Rolle das oströmische Byzanz spielte, wie die Mongolen herrschten und wie das erste ukrainische Reich zustande kam, das die Kosaken schufen. Kyjiw (Kiew) war lange vor Moskau ein Macht- und Kulturzentrum. Als dann die russische Hauptstadt erstarkte, begann der jahrhundertelange Zwist zwischen dem Zarenreich und der Ukraine. Im 19. Jahrhundert gab es dort wie im übrigen Europa eine nationale Bewegung. Bedrückend sind die Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Stalin baute seine Industrie auf Kosten der ukrainischen Bauern auf. Das von den Russen noch immer geleugnete Aushungern (der Holodomor) in den 1930er Jahren kostete Millionen Menschen das Leben. Zehn Jahre später setzte das NS-Regime dem Land brutal zu. Über zwei Millionen Menschen wurden in den 1940er Jahren als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich verschleppt – mehr als wir derzeit Flüchtlinge von dort haben. Nach 1990 brach die Sowjetunion zusammen. Die Ukraine wurde ein selbstständiger Staat. Plokhy erzählt von dessen gewaltigen Problemen, der stagnierenden Wirtschaft, der Korruption. Dazu kommt von Anfang an die ständige Bedrohung durch Russland, dessen heutiger Präsident als wiedererstandener Zar das Land im Westen „zurückhaben“ will – mit fadenscheinigen Begründungen. Doch die Mehrheit der Menschen in der Ukraine, betont Plokhy, will nicht von den Russen besetzt und ausgebeutet werden. Sie orientiert sich nach Westen, nach Europa. Ist das Land dort willkommen?
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Ungelieferte Panzer
Der Verfasser bekennt, dass er nichts von Panzern versteht. Er hat auch nicht „gedient“ und erfüllt somit nicht einmal die Mindestvoraussetzungen für die militärischen Diskurse, die wir seit Monaten führen. Was er verstanden hat: Deutschland ist der Meinung, dass der russische Einmarsch in der Ukraine keinen Erfolg haben soll. Gegen einen solchen Einmarsch kann man mit Diplomatie offenbar wenig ausrichten. Vor dem 24. Februar 2022 hat man in dieser Hinsicht viel versucht. Es gab viele Besuche in Moskau. Auch Kanzler Scholz war dort, wenige Tage vor der russischen „Spezialoperation“. Auch ihm ist es nicht gelungen, den amtierenden Kreml-Herrscher von seinen Plänen abzubringen. Nach dem Beginn des Krieges war er – und offenbar waren es auch viele im Westen, möglicherweise einschließlich Scholz – der Meinung, er werde nur kurz dauern. Es ist anders gekommen. Offenbar ist die Ukraine militärisch nicht so unbedarft, wie wir das gedacht haben. Also hat man das „heimliche“ Kriegsziel – Russland verleibt sich die Ukraine ein – korrigiert. Nun heißt es: Russland darf den Krieg nicht gewinnen. Wir werden die Ukraine mit Waffen unterstützen, damit das nicht passiert. Zuerst haben wir dem Land Stahlhelme angeboten. Aber es hat sich gezeigt, dass man damit nur wenig im Krieg ausrichten kann. Dann haben wir uns durchgerungen, Munition zu liefern, schließlich sogar „kleine“ Panzer. Nun will die Ukraine „Kampfpanzer“, also den Leoparden, der unter dieser Rubrik läuft. Scholz lehnt das ab. Soll man sagen: bisher? Verzweifelt sucht der Neue im Verteidigungsministerium nach Ausflüchten, um nicht das tun zu müssen, was viele Verbündete im Westen fordern: liefern zu müssen. Er will erst einmal wissen, wie viele Leoparden wir haben. Interessant, dass der beklagenswerte Zustand der Bundeswehr schon beim Zählen beginnt. Das macht man offensichtlich nicht ständig. Was will Scholz? Den Frieden? Den wollen wir alle. Aber wie soll er kommen? Soll die Ukraine militärisch unterliegen? Interessant, dass wir offenbar aus dem 2. Weltkrieg nichts gelernt haben oder vielleicht doch? Damals haben die Sowjetunion und das Deutsche Reich die Ukraine schon einmal besiegt.
Ukrainische Geschichte
Es gibt allerlei, was man über die Ukraine weiß oder zu wissen meint, aber doch nicht richtig weiß. Warum beansprucht Russland diesen Staat als sein Eigentum? Sind seine Unabhängigkeitsbestrebungen eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts oder gibt es sie schon länger? Wie haben sich die Zaren gegenüber der Ukraine verhalten, wie Lenin und Stalin? Was hat Deutschland mit dem Land zu tun? Steffen Dobbert zeichnet in „Ukraine verstehen“ (Verlag Klett-Cotta) die Geschichte, Politik und den Freiheitskampf des Landes nach. In diesem handlichen und gut zu lesenden Büchlein verschweigt Dobbert nicht die problematischen Phasen des Landes, als Nationalisten ohne Rücksicht agierten, aber er würdigt auch ausführlich die verschiedenen Freiheitskämpfe bis hin zu den Orangen Revolutionen. So entsteht das Bild eines Landes, dem seine Nachbarn immer wieder verwehren, eigenständig zu werden. Die russischen bzw. sowjetischen Nachbarn beuteten es brutal aus. Stalin ließ in den 1930er Jahren rücksichtslos Millionen verhungern, weil er das ukrainische Getreide devisenbringend verkaufen wollte. Das Deutsche Reich holte sich während der NS-Zeit Ukrainerinnen und Ukrainer als Fremdarbeiter: In ihnen sah man eh nur Menschen zweiten Ranges („Untermenschen“). Dass Russland ohne jeden begründbaren Anspruch das Ziel hat, sich diese „Grenzregion“ einzuverleiben, seine Rohstoffe zu nutzen und jede kulturelle Eigenheit, vor allem die Sprache, zu unterdrücken, wird in Dobberts Buch ausführlich begründet. Putins Ziele sind mit denen Stalins identisch: die Russifizierung der Ukraine, die Vernichtung der dortigen politischen Führung, die Zerstörung seiner Bindung an den Westen. Die Ukraine ist für ihn, den neuen Stalin, ein Teil des russischen Imperiums und hat kein staatliches Existenzrecht. Besonders interessant ist das 16. Kapitel dieses Buches, wo mit den Lügen und dreisten Behauptungen aufgeräumt wird, die die russische Propaganda und ihre deutschen Freunde über die Ukraine verbreiten.