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Rechtsruck

Es ist mit Händen zu greifen: Das Land bewegt sich politisch nach rechts. Die Zeitung titelt heute, dass große Teile der Christlich-Demokratischen Union (CDU), angeführt von einem Adligen (von Stetten) zu Anhängern Seehofers geworden sei. Gestern war zu lesen, dass die einstige Vertriebene, die CDU-Politikerin Steinbach, gegen die Politik der Kanzlerin zu Felde zieht – und das, obwohl sie, wie sie beteuert, Frau Merkel liebe. Umfragen werden zitiert, die deren Umfragewerte und die ihrer Partei als im Sinkflug begriffen beschreiben. Dafür gewinnen AfD und Pegida an Zuspruch. Wir nähern uns offenbar den Europäern an, auch in der neuen Liebe zu den Rechtskonservativen. Für einen noch größeren Zuspruch fehlt wohl nur der geeignete Führer, ein Orban, Kaczynski oder Wilders oder eine Le Pen. Aber vielleicht tut es auch Frau Petry. Ich maße mir keineswegs an, diese Entwicklung zu leugnen, verhehle aber nicht, dass sie mir Sorgen bereitet. Wenn das Land schon bei prosperierender Wirtschaft, steigenden Löhnen und Renten zu den schönen Parolen der Nationalisten flüchtet, wie wird das erst werden, wenn die ökonomischen Daten schlechter werden, die Zahl der Arbeitslosen wieder steigt, wenn Griechenland zu teuer wird, wenn der Wandel des Klimas ernsthaft zu spüren ist, wenn wir eine Energiekrise bekommen oder wenn die von der EZB herbeigesehnte Inflation heftiger als gewünscht ausfällt? Es wurde uns immer eingeredet, Deutschland sei eine stabile Demokratie, die kein Wind so schnell umblase. Es zeigt sich nun, dass dem nicht so ist. Auch hier werden die Gruppierungen vom rechten (und bald auch vom linken) Rand Honig aus der Krise saugen. Die Schlägertrupps und die Brandstifter rüsten auf. Den verbalen Faschisten muss man bereits das Kommentieren erschweren. Der Rassismus wird salonfähig. Es gibt inzwischen genügend Ausländer, die man zu Sündenböcken erklären und attackieren kann. Deutschland ist offenbar tatsächlich überfordert, ein wenig bei der Logistik der Flüchtlingsunterbringung, aber viel mehr bei der Bewahrung demokratischer Gelassenheit.

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Naivität

Ein neues Modewort geht um, das von den naiven Deutschen. Sie träumten sich die Wirklichkeit schön, heißt es, angeführt von einer Bundeskanzlerin, die man jetzt nur noch „Mutti“ nennt, um ihre Unbedarftheit auszudrücken. Noch vor wenigen Monaten pries oder schalt man sie als eine hartherzige „eiserne Lady“, nun ist sie der Inbegriff von Unfähigkeit und politischer Dummheit. Die Kommentare über sie sind an Gehässigkeit nicht mehr zu überbieten. Mit ihr werden alle „Gutmenschen“ in den Kessel geworfen und von denen, die alles viel besser wissen, weichgekocht. Mich wundert diese lautstarke Stimmungsorgie, dieser verführerische Gesang der populistischen Sirenen, dieser fast einstimmige Chor der Nationalkonservativen nicht. Was jetzt an Meinungen hochkocht, war latent immer vorhanden. Nur dass aus den Stammtischparolen nun „ehrenwerte“ Meinungen werden. Sie artikulieren sich bei Pegida, den Parteitagen der AfD oder wie sie jetzt heißen mag, aber zunehmend auch in den Ortsverbänden der christlichen Parteien. Dort gäre es, wird gesagt. Wie schön, dass sie mal wieder ein Thema haben. Und die Naivität? Ich weigere mich, das Klischee zu akzeptieren, dass wir nur von Dilettanten und Idioten („Laien“) regiert werden. Ich lehne es ab, den widerlichen Volkssturm der Heimatschützer für den Ausdruck des „wahren Deutschland“ zu halten. Wenn es aber so weit kommt, dass die naive Hetzpropaganda der sog. „sozialen Netzwerke“ (wo ist bei denen das Soziale?) unser politisches Handeln bestimmt, dann habe ich allen Grund, mein „armes Deutschland“ zu beklagen.

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Gehen,ging,gegangen

Als die Autorin Jenny Erpenbeck mit ihren Recherchen vor einigen Jahren für einen Roman zum Thema Flüchtlinge begann, konnte sie kaum ahnen, dass die Realität sie überholen würde. Die Hauptperson der Geschichte mit dem Titel „Gehen, ging, gegangen“, der emeritierte Literaturprofessor Richard, stünde nun, im Herbst 2015, vor noch schwerer wiegenden Fragen als im Winter 2013/2014. Richard bewohnt allein ein geräumiges Haus an einem Berliner See. Dort ist im Sommer jemand ertrunken, eine Art Mittelmeer vor der Haustür. Die Routine von Richards Ruhestandsalltag wird unterbrochen, als er im Regionalfernsehen etwas sieht, woran er mittags gedankenlos vorbeigegangen ist: eine Demonstration afrikanischer Migranten am Oranienplatz. Sie wollen auf ihre Lage aufmerksam machen. Der Bericht weckt Richards Interesse. Er besucht die Flüchtlingsunterkunft und lässt sich die Geschichten von Menschen erzählen, die nicht wie viele andere im Mittelmeer ertrunken sind, sondern es bis Berlin geschafft haben. Was diese Männer zu sagen haben, ist furchtbar. Ihre Schicksale sind verschieden, aber ihre Probleme ziemlich gleich. Richard bringt sich helfend ein, lässt den einen zuhause an seinem Klavier üben, vermittelt einen anderen als Pfleger, kauft der Familie eines Dritten ein Grundstück in Afrika, begleitet bei Behördengängen und gibt Deutschunterricht („gehen, ging, gegangen“), wohl wissend, dass Einzelfallhilfe die Probleme nicht grundsätzlich löst. Der Leser lernt mit Richard viel über das Asylrecht. Das Dickicht der Bestimmungen führt zu kafkaesken Situationen. Als am Ende einigen Migranten die Abschiebung droht, stellt Richard sein Haus als Unterkunft zur Verfügung. Ist das ein Roman? Erpenbeck erzählt eine Fiktion, die ganz nahe an der Wirklichkeit ist. Sie diskutiert nicht „die Flüchtlingsfrage“, sondern gibt anonymen Fremden ein individuelles Gesicht. Wer sich dagegen abschotten will, darf dieses Buch nicht lesen.