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Kermani

In Navid Kermanis Büchlein „Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa“, das 2016 im Verlag C. H. Beck erschienen ist, steht ein Text, der zu einem Drittel bereits 2015 im Spiegel zu lesen war. Nun hat der Autor, dem wir unter anderem eine ergreifende Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels verdanken, seinen Bericht wesentlich erweitert. Damit wird er zum historischen Dokument einer Phase der deutschen Geschichte, die so vermutlich nie wiederkommen wird. Denn Europa hat es inzwischen einmal mehr geschafft, sich so abzuschotten, dass kaum noch flüchtige Fremde eintreffen. In Deutschland ist das Thema „Abschiebung“ inzwischen wesentlich wichtiger als die „Willkommenskultur“. Kermani beschreibt die Ereignisse des Fluchtjahres aus eigener Anschauung. Er war unter anderem in Griechenland, auf der Insel Lesbos, und im türkischen Izmir. Er hat mit vielen Flüchtlingen gesprochen und auch mit denen, die sie verwalten, abwehren, registrieren. Was er gesehen und gehört hat, kann auch den heutigen Leser noch aufregen und bedrücken. Kermanis Analyse der Situation und seine Haltung muss man nicht teilen, aber sie wäre der Diskussion wert. Das Buch enthält viele sprechende Fotos von Moises Seman. Sie künden vom Leid der Menschen. Wer sich auf das Thema Flucht und Vertreibung im 21. Jahrhundert, auf das Versagen Europas und den deutschen Herbst von 2015 erneut einlassen möchte, der nehme dieses Buch in die Hand.

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Kirchenabbau

Wenn Höhergestellte sich zum gemeinen Volk herablassen, wollen sie die Wirklichkeit gern auf Hochglanzpapier sehen. Das galt einst für die Könige und ist heute so bei bedeutenden Ministern. Auch Prälaten, das sind in der evangelischen Kirche die Leiter von Prälaturen, also größeren Verwaltungseinheiten, auch die Prälaten stehen weit über uns gewöhnlichen Gläubigen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich bei Prälat Roses Erscheinen die evangelische Kirchenwelt in Böblingen und Sindelfingen im besten Licht zeigt. So jedenfalls steht es heute (29.3.17) in der Böblinger Kreiszeitung. Dass sich die Landeskirche Württemberg – immer noch säuberlich getrennt von der in Baden – allmählich in die Bedeutungslosigkeit auflöst, wird ausgeblendet. Und dass die gut bezahlte Kirchenleitung keine Konzepte gegen die Austritte hat, verschweigt man gerne. Eine Werbekampagne mit Luther ist zwar ein Hype, aber kein Ersatz für ausbleibende Reformen. Dem Vernehmen nach will sich die Kirche erneuern. Händeringend sucht sie nach einem neuen Luther. Aber wenn er käme, wehe, er würde die erstarrten Strukturen in Frage stellen. Dazu passt, dass nur eines klappt in dieser Kirche, der Stellenabbau. Gemeinden ohne Pfarrer werden bald keine Gemeinden mehr sein. Ich sehe den Tag kommen, an dem wir uns sonntags gemeinsam vor dem Fernsehgerät versammeln, um auf dem Bildschirm Gottesdienst zu erleben. – darf man da noch „feiern“ sagen? Die Stippvisite eines Prälaten wird diese Entwicklung nicht bremsen.

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Brender-Gedenken

Die Nachricht vom Tod der Autorin Irmela Brender löst beim Schreiber dieses Blogs Erinnerungen aus. Weil er inzwischen wohl der letzte Lehrer ist, der sich an jene innovative Zeit Anfang der 1970er-Jahre erinnert, sei hier eine kurze Darstellung gewagt. Es geht um eine Fußnote der hiesigen Schulgeschichte, den damaligen Religionsunterricht im Sindelfinger Gymnasium in den Pfarrwiesen. Inspiriert vom aufmüpfigen Geist der späten sechziger Jahre und unzufrieden mit der Konfessionsbezogenheit des RU wagten sechs Kollegen (zwei Padres, drei Religionslehrer und ein Ethiklehrer) ein Experiment: Für den Unterricht in der damals noch nicht reformierten Oberstufe wurden drei Gruppen gebildet und mit je zwei unterschiedlich gestrickten Lehrern bestückt. Die Schüler wurden über das Themenangebot der drei Teams informiert und durften dann wählen, an welcher Gruppe sie im kommenden Halbjahr teilnehmen wollten. Nach zwei Jahren wurden wir noch mutiger. Wir boten sechs kleinere Gruppen an mit sechs verschiedenen Themen. Die konfessionelle Zuordnung war endgültig aufgebrochen. Gerne erinnere mich noch an einige katholische Schülerinnen und Schüler, die ich damals unterrichten durfte. Die Schulleitung ließ uns übrigens gewähren. Und was hat das mit Irmela Brender zu tun? Schriftsteller konnten auch damals nicht von ihren Werken leben. So produzierte sie für den einstigen Süddeutschen Rundfunk diverse Sendungen. Eine war dem „Sindelfinger Modell“ gewidmet, unserem interkonfessionellen Religionsunterricht. Postumer Dank an Frau Brender, auch wenn ihre im Radio verbreitete Würdigung dem Modell ein rasches Ende bereitet hat. Die Kirchenleitungen griffen verbietend ein.