Unter den evangelischen Pfarrern kreist eine Unterschriftenliste. Wer unterschreibt, bekennt sich gegen die Lieferung von Waffen an die Ukraine. Das sei mit dem Evangelium nicht vereinbar. Jesus habe die Gewaltlosigkeit propagiert. Selig seien die Friedfertigen, wahre Christen also Pazifisten. Solches Denken und Glauben ist ehrenhaft. Wer, wenn ihm jemand auf die eine Backe schlägt, die andere hinhält, kann beim Schläger möglicherweise einen Prozess des Nachdenkens auslösen. Auf die Ukraine übertragen würde hieße das: Das Land soll sich ohne eigene Gewalt der russischen Gewalt beugen, in der Hoffnung, dass Putin, beeindruckt von dieser friedlichen Geste, seine Eroberungsgelüste aufgibt. Dieser Gedanke hat etwas Betörendes. Die Gewalt gibt sich der Gewaltlosigkeit geschlagen. Wenn man dieses Experiment machte und sich die Ukrainer so verhielten, wäre das Risiko allerdings groß, dass sich der russische Präsident ob solch eines leichten Sieges die Hände reiben und stracks sein nächstes Ziel, das Baltikum, anvisieren würde. Unsere ehrenwerten Pastorinnen und Pastoren geben auf diese Frage keine Antwort. Sie blenden auch aus, dass in der neutestamentlichen Ethik das Eintreten für die Schwächeren gefordert wird. Wenn man sich fromm heraushält, wenn der Starke den Schwachen unterdrückt, macht man sich mitschuldig. Hätte David gegen Goliath keine Schleuder einsetzen dürfen? Sollen wir uns als Christen künftig nicht mehr wehren? Gewiss, Waffenlieferungen bedeuten die Verlängerung des Krieges. Aber seine Verkürzung durch die Niederlage des Angegriffenen zu fordern, mutet merkwürdig an. Es wäre an der Zeit, dass in der evangelischen Kirche über dieses Dilemma offen diskutiert würde. Dass man Unterschriftenlisten kreisen lässt, ersetzt den Dialog nicht.
Kategorie: Kirche
Die Institutionalisierung der Religionsausübung
Digitale Wunschreligion
Der Plan in Tahmima Anams Roman „Unser Plan für die Welt“ (erschienen 2022 bei Hoffmann und Campe) besteht darin, die religiösen Bedürfnisse der Menschen zu stillen. Die App wendet sich nicht an jene, die fest in einer Religion verankert sind, sondern an die Suchenden, die Unentschlossenen. Manchen gefällt ein Brauch im Christentum und zugleich ein buddhistischer Kult. Sie finden im Islam Riten, die ihnen etwas bedeuten, und Gedanken und Bilder in der Kultur, die sie bewegen. Religion, Musik, Bildende Kunst oder Literatur, Philosophie oder Ethnologie liefern die Bausteine, die den Nutzern je nach Interesse digital „angeboten“ werden. Programmiert wurde das Ganze von Asha, die mit der Autorin ihre Herkunft aus Bengalen gemeinsam hat. Das „Material“ für den Algorithmus liefert Cyrus, ein belesener Charismatiker. Die beiden heiraten. Ihr Konzept hat großen Erfolg, ihre Ehe nicht. Offenbar treffen sie den Nerv jener Menschen, die sich nicht mehr mit dem Oberflächlichen der sozialen Medien zufrieden geben wollen. Aber als sie in ihr Projekt auch noch ein Programm aufnehmen, das eine Art „Kommunikation“ zwischen Lebenden und Toten ermöglicht, kommt es zu einer Katastrophe, die Ashas und Cyrus‘ Werk zu zerstören droht. Tahmima Anam hat in den USA studiert und lebt in Großbritannien. Sie erzählt flott und mit viel Humor. Zugleich stellt ihre Geschichte grundsätzliche Fragen zum Umgang mit der Religion und dem Tod in einer Zeit zunehmender Bedrohung. Die Erzählung endet 2020 mit dem Beginn der Pandemie, deren Auswirkungen die Autorin mit großer Skepsis entgegensieht. Anams literarische Stimme verdient Gehör.
Ringende Kirchen
In den Presseberichten über den Stuttgarter Katholikentag taucht die Metapher von der Kirche auf, die um Reformen ringt. Nun braucht es zum Ringen bekanntlich zwei, die es miteinander tun. Manchmal gibt es beim Ringkampf ein Remis, aber in der Regel wird ein Teilnehmer zum Sieger erklärt. Wird es beim katholischen Ringen um Fortschritte, man könnte auch sagen: um Reformen, einen Sieger geben? Werden jene, die sich für Frauen als Priester einsetzen oder für eine neue Sexualmoral, für klare Regeln bei Missbrauch oder für die Abendmahlsgemeinschaft mit den verketzerten Protestanten und anderes erfolgreich ringen? Oder werden sie allenfalls ein Remis bekommen, das besagt, dass sich nichts ändern wird, aber man weiter über Änderungen reden darf? Bei den Evangelischen gibt es manche der oben genannten Probleme nicht in diesem Ausmaß, dafür aber andere: Wir haben eine Gottesdienstordnung, die von außen Kommende ratlos macht oder nur einfach langweilt, viele haben ein pietistisch geprägte Bibelverständnis, das die Texte als Beschreibungen realer historischer Vorgänge nimmt, die Leitung zeigt Mutlosigkeit beim Reden über die Probleme der Welt. Der Klimawandel ist für manche gottgewollt und daher unabänderlich, in der Ukraine kämpfen Russen gegen Russen – lasst sie doch machen. Die Pandemie ist ebenfalls „von oben“ gekommen. Sie soll den Menschen für seine Sünden strafen. Impfen ist Teufelszeug und ein Eingriff in den göttlichen Willen. Die Probleme der Ungleichverteilung von Vermögen geht die Kirche nichts an, Hauptsache, sie hat selbst regelmäßigen Einnahmen. Und was hat die Kirche damit zu tun, dass Menschen fliehen? Politik, so hört man aus frommem Munde, hat in der Kirche nichts zu suchen. Vielleicht – meint Häckerling – sollte es andersherum sein: Diese Art von Frommen haben in der Kirche nichts zu suchen. Wird eigentlich jemals aufgearbeitet werden, was die pietistische Erziehung an vielen Kindern angerichtet hat? Also: Welche Traumata dadurch vermittelt wurden, welcher Missbrauch mit den kindlichen Seelen man getrieben hat. Das Ringen um eine bessere Kirche hat noch kaum begonnen.