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Auswanderung

Alle reden von denen, die zu uns kommen, keiner von denen, die uns verlassen. Dazu gehören nicht nur jene, die sterben, sondern auch jene Menschen, die Deutschland verlassen, die Auswanderer. Warum sie das tun, verrät die Statistik nicht. Wählen sie einen anderen Berufsort? Möchten sie endlich in einem sonnigen Klima leben? Kehren sie zurück in jenes Land, aus dem sie einst zu uns kamen? Von den Türken sagt man das, zum Beispiel. Aber wie viele sind es nun, die weggehen? Die Zahlen überraschen. In den letzten 25 Jahren waren es pro Jahr mindestens 600.000, oft (z.B. 2013) fast 800.000. Manche, die bei den vielen Flüchtlingen das Ende von Deutschland kommen sehen, finden diesen Verlust an Menschen offenbar unerheblich. Es sind vermutlich die gleichen, die sehr an der Erhaltung unseres Lebensstandards interessiert sind und von den Fremden eine Gefahr für ihren Wohlstand befürchten. Dass die fast 800.000 Auswanderer (jedes Jahr) durch ihren Weggang auch an diesem Standard kratzen, ist ihnen offenbar nicht bewusst. Geradezu absurd wird es, wenn wir in den Osten der Republik blicken: Dort finden wir blühende, aber menschenarme Landschaften. Ihren Wohlstand möchten die dort Verbliebenen nicht durch undeutsche Menschen gefährdet sehen. Wir im Westen tun ja auch viel, um sie zu alimentieren. Der Solidaritätszuschlag hatte 2012 ein Volumen von fast 14 Milliarden Euro.

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Naivität

Ein neues Modewort geht um, das von den naiven Deutschen. Sie träumten sich die Wirklichkeit schön, heißt es, angeführt von einer Bundeskanzlerin, die man jetzt nur noch „Mutti“ nennt, um ihre Unbedarftheit auszudrücken. Noch vor wenigen Monaten pries oder schalt man sie als eine hartherzige „eiserne Lady“, nun ist sie der Inbegriff von Unfähigkeit und politischer Dummheit. Die Kommentare über sie sind an Gehässigkeit nicht mehr zu überbieten. Mit ihr werden alle „Gutmenschen“ in den Kessel geworfen und von denen, die alles viel besser wissen, weichgekocht. Mich wundert diese lautstarke Stimmungsorgie, dieser verführerische Gesang der populistischen Sirenen, dieser fast einstimmige Chor der Nationalkonservativen nicht. Was jetzt an Meinungen hochkocht, war latent immer vorhanden. Nur dass aus den Stammtischparolen nun „ehrenwerte“ Meinungen werden. Sie artikulieren sich bei Pegida, den Parteitagen der AfD oder wie sie jetzt heißen mag, aber zunehmend auch in den Ortsverbänden der christlichen Parteien. Dort gäre es, wird gesagt. Wie schön, dass sie mal wieder ein Thema haben. Und die Naivität? Ich weigere mich, das Klischee zu akzeptieren, dass wir nur von Dilettanten und Idioten („Laien“) regiert werden. Ich lehne es ab, den widerlichen Volkssturm der Heimatschützer für den Ausdruck des „wahren Deutschland“ zu halten. Wenn es aber so weit kommt, dass die naive Hetzpropaganda der sog. „sozialen Netzwerke“ (wo ist bei denen das Soziale?) unser politisches Handeln bestimmt, dann habe ich allen Grund, mein „armes Deutschland“ zu beklagen.

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Gehen,ging,gegangen

Als die Autorin Jenny Erpenbeck mit ihren Recherchen vor einigen Jahren für einen Roman zum Thema Flüchtlinge begann, konnte sie kaum ahnen, dass die Realität sie überholen würde. Die Hauptperson der Geschichte mit dem Titel „Gehen, ging, gegangen“, der emeritierte Literaturprofessor Richard, stünde nun, im Herbst 2015, vor noch schwerer wiegenden Fragen als im Winter 2013/2014. Richard bewohnt allein ein geräumiges Haus an einem Berliner See. Dort ist im Sommer jemand ertrunken, eine Art Mittelmeer vor der Haustür. Die Routine von Richards Ruhestandsalltag wird unterbrochen, als er im Regionalfernsehen etwas sieht, woran er mittags gedankenlos vorbeigegangen ist: eine Demonstration afrikanischer Migranten am Oranienplatz. Sie wollen auf ihre Lage aufmerksam machen. Der Bericht weckt Richards Interesse. Er besucht die Flüchtlingsunterkunft und lässt sich die Geschichten von Menschen erzählen, die nicht wie viele andere im Mittelmeer ertrunken sind, sondern es bis Berlin geschafft haben. Was diese Männer zu sagen haben, ist furchtbar. Ihre Schicksale sind verschieden, aber ihre Probleme ziemlich gleich. Richard bringt sich helfend ein, lässt den einen zuhause an seinem Klavier üben, vermittelt einen anderen als Pfleger, kauft der Familie eines Dritten ein Grundstück in Afrika, begleitet bei Behördengängen und gibt Deutschunterricht („gehen, ging, gegangen“), wohl wissend, dass Einzelfallhilfe die Probleme nicht grundsätzlich löst. Der Leser lernt mit Richard viel über das Asylrecht. Das Dickicht der Bestimmungen führt zu kafkaesken Situationen. Als am Ende einigen Migranten die Abschiebung droht, stellt Richard sein Haus als Unterkunft zur Verfügung. Ist das ein Roman? Erpenbeck erzählt eine Fiktion, die ganz nahe an der Wirklichkeit ist. Sie diskutiert nicht „die Flüchtlingsfrage“, sondern gibt anonymen Fremden ein individuelles Gesicht. Wer sich dagegen abschotten will, darf dieses Buch nicht lesen.