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Unwirksame Vergleichsarbeiten

Mit den Vergleichsarbeiten an den baden-württembergischen Schulen ist es ein Kreuz. Da es Probleme mit der Geheimhaltung der Aufgaben gab und überhaupt viele gegen sie waren, vor allem dagegen, dass sie benotet werden, hat das Kultusministerium die Notbremse gezogen und zum einen die Benotung abgeschafft und zum anderen die Termine geändert. Jetzt werden sie Ende September, Anfang Oktober sozusagen „rückwirkend“ geschrieben, also nach einigen Wochen Unterricht in Klasse 9 der „Lernstand“ in Deutsch, Mathematik und einer Fremdsprache am Ende der Klasse 8 erhoben.

Ist das nicht reichlich spät? Schüler vergessen schnell und in den Sommerferien noch schneller. Das wird dazu führen, dass in den ersten Wochen des neuen Schuljahrs in Klasse 9 der Kompetenzerwerb in den Klassen 7 und 8 trainiert wird. Schließlich will man (als Lehrender und Lernender) in diesem Test ordentlich abschneiden. Oder etwa nicht?

Man kann an der Wirksamkeit des Evaluationsinstruments Vergleichsarbeit tatsächlich zweifeln. Vorgeschrieben ist das Schreiben der Tests und wohl auch ihre Auswertung durch den betreffenden Fachlehrer – oder den aus dem Vorjahr? Daraus ergeben sich „Informationen zum individuellen Leistungsstand einzelner Schülerinnen und Schüler“. Und was wird daraus in Klasse 9? Wer soll die Rückstände aus 7 und 8 aufarbeiten? Und wie soll das geschehen?

Anhand der landesweiten Ergebnisse aus der Pilotierungsphase können die Lehrkräfte der Klasse 9 sehen, wie gut in 7 und 8 gearbeitet wurde. Und dann? Die Ergebnisse „sollten“ in der Fachkonferenz „offen diskutiert und interpretiert werden, um gezielte Maßnahmen einzuleiten“, heißt es auf dem Landesbildungsserver. Dieser syntaktisch verunglückte Satz (Was ist das „Subjekt“ des um-zu-Gefüges?) verrät die ganze Unsicherheit. Wer leitet die gezielten Maßnahmen ein? Die Fachkonferenz? Worin bestehen die Maßnahmen? In Pflichtfortbildungen? Welche Rolle spielt eigentlich die Schulleitung bei der ganzen Sache? Fragen über Fragen.

2 Antworten auf „Unwirksame Vergleichsarbeiten“

Die Verlegung der Vergleichsarbeiten in den Schuljahresbeginn bietet auch Chancen. Man ist frisch und optimistisch, man kann noch hoffen, sich im Lauf des Schuljahres zu verbessern.

Auch zeigt die Verlegung, dass Utopien und Träume doch Eingang gefunden haben in unser Schulsystem. Kompetenzen sollen als langfristig erworbene Kenntnisse, Fähigkeiten/Fertigkeiten und Haltungen überprüft werden. Manfred Spitzer hat sogar gefordert, Klassenarbeiten sollten generell nur über Stoffe geschrieben werden, deren Behandlung mehr als sechs Wochen zurück liegt. Und klingt nicht leise das von John Dewey formulierte Paradox an, dass Bildung sei, was übrig bleibt, wenn man alles Gelernte wieder vergessen hat? Hat Dewey sich damit auf Laotse berufen, der das „Vergessen des Erkannten“ gar zum letzten Ziel erklärte („Wer im Forschen wandelt, nimmt täglich zu, wer im Sinne wandelt, nimmt täglich ab“)?

Sicher hängt viel von der Qualität der gestellten Aufgaben ab. Hier erinnere ich mich an die letztlich doch nicht gegründete Arbeitsgruppe, die sich damit beschäftigen sollte, für Vergleichsarbeiten „anspruchsvolle kontextfreie Leistungsaufgaben“ zu entwickeln. – Gibt es diese Aufgaben überhaupt? Wie ist das mit dem Vergessen? Und mit dem Üben und Wiederholen?

Bemühen wir erneut Laotse. Von ihm stammt auch das schöne Zitat: „Lernen ist wie Rudern gegen den Strom – sobald man anhält, treibt man zurück.“ Die experimentelle Gedächtnispsychologie hat Laotses Bild der ineinander greifenden Dynamik von Lernen und Verlernen qualitativ voll bestätigt. Allerdings hat die so genannte „Vergessenskurve“, die Ebbinghaus 1885 nach einem grandiosen jahrelangen Selbstversuch veröffentlichte, eine andere Funktionsgleichung als die einer Person, die aufhört, stromaufwärts zu schwimmen und nun immer schneller bis maximal der Strömungsgeschwindigkeit in und mit dem Fluss zurück treibt. Beim Vergessensprozess ist es umgekehrt: Der Verlust ist anfangs hoch, dann verlangsamt er sich fast bis auf Null. Ohne Wiederholung, so hat Ebbinghaus ermittelt, behalten wir langfristig – und zwar nach sechs Wochen wie auch nach Jahren – nur bzw. immerhin noch ca. 20% eines einmal auswendig gelernten Stoffs im Gedächtnis! In Zeitungen taucht dieser Wert manchmal auf: „Wozu noch Fakten lernen, wenn doch bereits nach kurzer Zeit 80% vergessen wird?“

Nun wird es interessant: Was aber heißt Vergessen? Hier zeigt sich das Intelligente am Selbstexperiment von Ebbinghaus. Dieser maß „Vergessen“ nämlich nicht über das, was er nach sechs oder acht Wochen von seiner einmal bis zum auswendig Können gelernten 10-Silben-Reihe spontan noch erinnerte (dann wäre er auf 100%-Vergessen gekommen!) Sondern er maß „Vergessen“ über die Verkürzung der „Wieder-Lernzeit“.
80%-Vergessen heißt also, dass es 20% schneller geht, mir den Stoff erneut anzueignen. Wenn ich ihn vorher schon mehr als einmal gelernt und geübt habe, geht es wesentlich schneller. Und wenn ich ihn gar mit Sinn verbinde, dann noch schneller (allerdings steigen auch wieder Fehlermöglichkeiten durch falsche Verknüpfungen).

Angewendet auf die Situation mit den Vergleichsarbeiten am Schuljahresbeginn heißt das aus meiner Sicht: Natürlich müssen – anders als Spitzer polemisierte – die zu prüfenden im vergangenen Schuljahr erworbenen Kompetenzen kurzfristig erneut geübt und aufgefrischt werden, selbständig, gemeinsam und mit Hilfe des (neuen) Lehrers. Aber das ist doch angestrebt! Kompetenzorientierter Unterricht bedeutet ja gerade, dass Lehrer (und Schüler) sich nicht mehr damit zufrieden geben sollen, etwas einmal gelehrt (bzw. gelernt) zu haben, sondern sie das Gelernte immer wieder aktivieren, in neue Kontexte bringen, überprüfen und individuell verbessern.

Dass bei den verlegten Vergleichsarbeiten auch enttäuschende Ergebnisse auftreten werden, die die aktuell Beteiligten nicht zu verantworten haben, ist klar. Wir sollten in unseren Systemen aber nicht dauernd nach Schuldigen suchen, sondern nach Verbesserungsmöglichkeiten. Dazu gehört eine positive Fehlerkultur. Dass die Ergebnisse von Vergleichsarbeit nicht mehr in die Jahresnote eingehen, finde ich gut.

Da kann ich mit vielem einverstanden sein. In der Nichtbenotung der Vergleichsarbeiten liegt eine große Chance, aber auch ein Risiko: Was nicht zählt, gilt bei Schülern (und auch manchen Lehrern) oft nichts, das heißt, es wird nicht ernst genommen. Auch dem Werben für eine “Fehlerkultur” möchte ich mich gerne anschließen. Fehler sind etwas sehr Interessantes; es sind Beispiele für (individuell) Schwieriges: Warum werden sie gemacht? Was kann man tun, um sie künftig zu vermeiden? Aus Fehlern zu lernen, das ist immer noch eine gute Devise.
Fehler entstehen manchmal aus dem Vergessen. Das Gelernte ist versunken und nicht mehr abrufbar. Das kann mich unsicher machen. Dann schlage ich nach oder recherchiere im Internet. Oder ich bin der Typ, dem es egal ist, ob er Fehlerhaftes produziert, weil er anderes für wichtiger hält. Oder ich bin mir sicher, weil ich es “so im Kopf” habe, also mache ich mich nicht kundig – und mache den Fehler.
In den Vergleichsarbeiten werden Lehrende und Lernende die Chance habe, aus Fehlern zu lernen, wenn die Lehrenden ihre Fehler zugeben und die Lernenden in guter Form (konstruktiv) auf sie aufmerksam gemacht werden, wenn also aus der Diagnose eine sinnvolle Förderung erwächst.
Ich hoffe, die Kultusverwaltung schafft es, eine Handreichung zu formulieren, die dieses Ziel zu erreichen hilft

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