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Tunnelblick

Mit diesem Ausdruck belegen Augenärzte die Einschränkung des Gesichtsfelds. In Baden-Württemberg ist diese Krankheit derzeit besonders stark verbreitet. Das hängt mit dem Stuttgarter Bahnhof zusammen. Der soll ein weiteres Untergeschoss bekommen, damit ihn die Fernzüge schneller durchfahren können. Über dieses Bauwerk wird – wie inzwischen die ganze Republik weiß – heftig gestritten. Die Befürworter und die Gegner stehen sich „unversöhnlich“ gegenüber. Normale Gespräche über dieses Thema sind kaum noch möglich. Findet mal ein normaleres Gespräch statt, wird dies schon als ein Wunder angesehen. Das ist kein Wunder, denn am Ende des Stuttgarter Tunnels zeigt sich kein Licht.

Im Frühjahr darf der Baden-Württemberger wählen. Er hat dabei die Chance, durch seine Stimmabgabe das Projekt S 21 zu kippen, denn wenn die Grünen mit den Sozialdemokraten an die Macht kommen sollten, werden sie ihr Wahlversprechen einhalten müssen und den Bau des Bahnhofs stoppen. Wobei die SDP noch den Umweg über ein Bürgerbegehren gehen will. Aber das läuft, wie man derzeit zu wissen meint, auf dasselbe hinaus. Dann ist Stuttgart um eine Attraktion reicher: um eine Baustelle, an der sich jahrelang nichts mehr tun wird, bis endlich der Rückbau beginnen kann. Ob das dann im Sinne der vielen Wähler von Rot-Grün sein wird?

Auch der bestehenden Koalition, der christlich-liberalen, ginge es im Falle eines Sieges übel: Sie müsste weiterbauen und hätte ständig mit dem Unwillen der bürgerlichen Demonstranten zu kämpfen. Denn der Unfriede, der das Land erfasst hat, ist nicht mehr zu beseitigen. Er wird mit jedem baulichen Fehler neue Nahrung bekommen.

Gesucht wird ein Politiker, der die Unversöhnlichen versöhnt. Den gibt es aber nicht. Also blicken wir weiter in den dunklen Tunnel. Bis uns vielleicht ein Licht aufgeht.

(Blog-Eintrag Nr. 215)

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Grenzgang

Grenzgang, so heißt der erste Roman des Stephan Thome, Jahrgang 1972, der 2009 erschienen ist. Die amtliche Literaturkritik lobt das Werk, überwiegend wenigstens, Häckerling auch. Endlich mal ein deutscher Roman des 21. Jahrhunderts, den man mit Vergnügen lesen kann, der nicht in der verruchten Berliner Szene spielt oder uns mit der Schönheit Dresdens langweilt. Womit hat Thome das Lob verdient?

Der Autor kann erzählen. Wie er die Geschichten des gescheiterten Historikers und nunmehr als Gymnasiallehrer agierenden Thomas Weidmann und der geschiedenen, ihren aufmüpfigen Sohn und ihre demente Mutter versorgenden Kerstin Weber allmählich zusammenführt, das ist raffiniert gemacht. Dabei hat sich der Verfasser ein paar Schwierigkeiten eingebaut, die mit dem Ort des Geschehens zusammenhängen, Bergenstadt an der Lahn, hinter dem sich der Geburtsort Thomes, das hessische Biedenkopf, verbirgt. Dort wird alle sieben Jahre ein mehrtägiges Volksfest gefeiert. Mit diesen Festen verknüpft der Autor die Lebensgeschichten seiner Figuren. Das beginnt 1992, als Kerstin 30 ist, geht 1999 mit dem Zerbrechen von Kerstins Ehe und Weidmanns Wissenschaftskarriere weiter, kulminiert 2006 und endet 2013 in einer Art Abgesang. Das Ganze wird aber nicht chronologisch, sondern in bunter Mischung der Grenzgang-Feste erzählt.

Der Autor kann schreiben. Selten hat der Verfasser dieses Blogs geistreichere, geschliffenere Dialoge gelesen, selten konnte er sich mehr an ironischen Wendungen freuen. Die Figuren reflektieren ihre Lebenssituation unaufhörlich. Das wird trefflich mit der sprachlichen Pinzette aufgedröselt, aber nicht so, dass die Figuren dadurch denunziert werden. Sie behalten ihre Würde, auch wenn sie sie selbst aufs Spiel setzen und der Autor mit ihr spielt.

(Blog-Eintrag Nr. 214)

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Punkratius

Endlich hat es ein Schulleiter mal in die überregionale Presse geschafft. Es ist nicht sein poetischer Name (Matthias Isecke-Vogelsang), der ihm Publicity verschafft, es ist sein Outfit, wie man heute gerne sagt, sein äußeres Erscheinungsbild also, das die Stuttgarter Zeitung (vom 17.9.10), eine dpa-Meldung aufnehmend, so beschreibt: „Irokesenschnitt, Piercings, Schnürstiefel“.

Man sieht ihn mit ausgebreiteten Armen im Klassenzimmer stehen, vier Kinder schauen zu ihm auf, eines davon meldet sich. Auf dem schwarzen Sweatshirt steht der programmatische Satz: „Punks not Dead“. Der Mann ist 57, Fan der Toten Hosen, seit 31 Jahren verheiratet und Vater dreier erwachsener Kinder. Er leitet seit Kurzem eine Schule in Lübeck. Der Elternsprecher seiner alten Schule lobte ihn zum Abschied mit folgenden Worten: „Er hat den Kindern gezeigt, dass es nicht auf das Äußere ankommt. Er war eine Autorität.“ Der Satz regt zum Nachdenken an. Ist das so zu verstehen, dass der Mann trotz seines Äußeren eine Autorität ist? Oder ist er es nicht gerade deshalb? Weil er „authentisch“ ist? Weil er den Kindern die Pop-Kultur nicht madig macht, sondern sich mutig zu ihr bekennt?

Da sich die Suche nach Schulleitern immer schwieriger gestaltet, wäre zu überlegen, ob man die Ausschreibungen nicht um Sätze wie die folgenden ergänzt: „Habe den Mut, dich auf eine Schulleiterstelle zu bewerben. Du darfst so bleiben, wie du bist. Du musst nicht in Krawatte und Anzug herumlaufen, sondern darfst dich ganz locker kleiden. Wir freuen uns über deine Piercings oder Tätowierungen. Du musst nicht den Bildungsbürger mimen, sondern darfst deinen populären Kunst- und Musikgeschmack offen zur Schau stellen. Sage ja zu deinen Besonderheiten und du bist als Leiter einer Schule an der richtigen Stelle.“

Vielleicht ermuntern solche Aussichten den einen oder die andere dazu, sich auf eine solche Stelle zu bewerben.

(Blog-Eintrag Nr. 213)