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Versager

Wer laut ruft „Ich bin überfordert“, findet traditionell mehr Beachtung, als jener, der seine Aufgaben ohne Murren erledigt. Das gilt im Kleinen wie im Großen. Viele Kommunen und Landkreise kommen bei der Flüchtlingsunterbringung ihren Pflichten vorbildlich nach. Die Aufgabe ist groß, manchmal scheint sie nicht lösbar, manchmal haben die Verantwortlichen schlaflose Nächte, aber „sie schaffen es“ doch. Andere erheben ein Geschrei, schreiben Briefe an Frau Merkel oder ergehen sich in Wehklagen. Dabei fehlt es Ihnen vermutlich nur an Tatkraft und Weitblick, an planerischer und organisatorischer Kompetenz oder einfach an Ideen. Vielleicht wollen sie ihre Aufgaben auch gar nicht erfüllen. Klagen ist einfacher, da hat man den propagandistischen Mainstream der Online-Foren an der Seite. Oder man verweist auf das Kippen einer Stimmung, zu dem man nach Kräften selbst beiträgt. Das regionale Versagen hat seine Entsprechung auf den höheren politischen Rängen. Die gut bezahlten Vordenker im Innenministerium haben die Zeichen der Zeit zu spät wahrgenommen. Die neuen Bundesländer dürfen sich immer noch im postkommunistischen Nationalgefühl suhlen. Und erst manche „Europäer“! Sie halten ständig die Hand auf, aber sie haben nicht den Hauch einer Orientierung am europäischen Wertesystem. Europa steht als Mitverursacher vieler Krisen in der Verantwortung, aber es nimmt sie nicht wahr. Wenn man auf die Amerikaner blickt, könnte einem die Galle aus der Blase laufen. Sie vor allem haben uns die Suppe eingebrockt und sperren sich nun gegen das Auslöffeln. So sind die Neunmalklugen hier, die sich in Verweigerung ergehen („Warum sollten wir …?“), in „guter“ Gesellschaft. Eine Allianz von Versagern!

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Regenbogenstreit

Der Regenbogen ist in der biblischen Tradition das Symbol des Friedens. Derzeit stiftet er Unfrieden. Es bedurfte am letzten Samstag (10.10.15) polizeilicher Präsenz, um ein gewalttätiges Aufeinandertreffen von „Vielfalt“-Gegnern und –Befürwortern zu verhindern. Gestern berichtete die Zeitung, dass die Regenbogen-Gegner verlangen, der Stuttgarter Oper die Zuschüsse zu kürzen, weil sie mit einem Transparent Partei für die „Vielfalt“ ergriffen hat. Da tut es gut, einen Blick auf den Anlass dieses Streits zu werfen, den Entwurf des Bildungsplans 2016 und dort auf die Leitperspektive für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt. Es heißt darin: In der modernen Gesellschaft begegnen sich Menschen unterschiedlicher Staatsangehörigkeit, Nationalität, Ethnie, Religion oder Weltanschauung, unterschiedlichen Alters, psychischer, geistiger und physischer Disposition sowie geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung. Vermutlich sind es die letzten beiden Stichwörter, die den Unmut der Vielfalt-Gegner auslösen. Vielleicht würden sie ja sogar noch zugeben, dass es besagte Unterschiede gibt, ihre Benennung im Schulkontext aber lehnen sie ab. Zumal die Leitperspektive fordert, diese Unterschiede zu respektieren, zu achten und wertzuschätzen. Das geht nun wirklich nicht in die Köpfe der Regenbogen-Hasser. Schlimm genug, dass es so was wie Schwule und Lesben gibt, sie auch noch zu achten, ihnen mit Wertschätzung zu begegnen und sie zu allem Überfluss zum Thema in der Schule zu machen, das gehe nun wirklich nicht, meinen sie. Offenbar wünschen sie sich ein Schulleben, in dem – wie im 19. Jahrhundert – alle Fragen „sexueller Orientierung“ tabu sind. Man fragt sich, ob diese Menschen in letzter Zeit auch nur einen kurzen Blick auf die schulische Realität geworfen haben.

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Über-Überdruss

Allüberall wimmelt es derzeit an „Über“-Wörtern. Kaum ein Leserbrief kommt ohne sie aus. Es gibt zum Beispiel, nach Meinung mancher Schreiber, die Gefahr der „Überislamisierung“. Mit der bloßen Islamisierung könnten sie offenbar noch leben. Dann lese ich von der drohenden „Überfremdung“ Deutschlands. Das ist vermutlich so zu verstehen: Man wird Deutschland nicht mehr erkennen, weil es bald total fremd aussieht. Die Fremden, gemeint sind die Schutzsuchenden aus aller Welt, werden das deutsche Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Es ist erstaunlich, was man ihnen zutraut. Über das Wort „Überforderung“ hat sich Häckerling schon ausgelassen. Es dürfte zum „Wort des Jahres“ werden. Überhaupt: „Über“ ist ein Steigerungswort: mäßig – übermäßig. Ohne Superlative geht es derzeit nicht. Wir haben nicht nur volle, sondern „überfüllte“ Flüchtlingsunterkünfte. Wir haben Aufgaben zu schultern, die nach Meinung einer festgestellten Mehrheit, die mit der deutschen Einigung verbundenen Herausforderungen übertreffen. Es sei die größte Herausforderung der Nachkriegsgeschichte, heißt es. Überfällig ist meiner Meinung nach die Auseinandersetzung mit einer anderen Herausforderung: der Übertreibung. Gefragt ist die Versachlichung der Diskussion. Wenn man liest, was die Mehrheit in den Online-Foren schreibt, könnte man sich übergeben. Da übertreffen sich die Hasserfüllten und Überängstlichen in Formulierungen, die einem Angst machen können. Diese Menschen haben einfache Lösungen („Grenzen schließen“, „Merkel absetzen“, „Asylrecht abschaffen“) und beklagen überlaut, dass sie nicht sofort umgesetzt werden. Und die Übereifrigen mit ihrer Willkommenskultur? Für die sich geistig überlegen dünkenden Skeptiker und Hassprediger sind das gefährliche Deppen. Ich dagegen möchte gerne in einem Land leben, wo man mit nüchternem Realismus über die Probleme redet und das Nötige tut, sie zu lösen. Wäre Deutschland so, würde es mich freudig überraschen.