Der Fortschritt sei eine Schnecke; diese Erkenntnis ist populär. Auch Günter Grass hat sie vertreten. Er war Ratgeber der sozialdemokratischen Partei. Sie können wir aber in Baden-Württemberg nicht verantwortlich machen, dass es im Land beim digitalen Ausbau im Schneckentempo vorangeht. Nun finden das viele überhaupt nicht schlimm, im Gegenteil, denn das mit den Computern ist sowieso Teufelszeug. Da kann es gar nicht langsam genug bei dessen Einführung gehen. Bei dieser Meinung finden traditionelle Christen und konservative Grüne in trauter Eintracht zusammen. Sie wollen zurück zur Natur. Daher werden Straßen in Radwege umgewidmet, werden Landschaften vor Masten geschützt, die nur den Vögeln schaden, aber sonst nichts bringen. Unterricht über den Bildschirm? Das kann doch nicht wahr sein. Wenn er nicht im Klassenzimmer sein kann, dann lieber gar nicht. Das verpixelte Bild einer Lehrkraft ist der pädagogischen Zuwendung nicht förderlich. Gestern ging eine Erfolgsmeldung durch die Medien: 90 % aller baden-württembergischen Schulen waren auf den digitalen Fernunterricht nicht vorbereitet. Den neuen Standard der Datenübertragung, irgendwas mit 5, kennt man hierzulande nur vom Hörensagen. Im Kampf gegen den furchtbaren elektronischen Fortschritt kann das Land also Vollzug melden. Es ist ihm gelungen, diesen ekligen Modernisierungsschub abzuwehren. Dazu haben auch jene beigetragen, die den Aufbau einer digitalen Lernplattform erfolgreich hintertrieben haben, indem sie den Auftrag unlösbar formuliert und dann einer unfähigen Firma übertragen haben. Wir können also hoffen, dass es in unserem Land so bleibt, wie es ist. Zum Glück ist der Fortschritt eine Schnecke.
Monat: Juli 2020
Neunjährige Schulzeitgelüste
Jetzt wittern sie wieder Morgenluft, rechnen sich Chancen aus, hoffen auf Änderung, die Fans des neunjährigen Gymnasiums. Sie können nicht genug bekommen vom gymnasialen Unterricht für ihre Kinder, vor allem die erwachsenen unter ihnen. Im Gymnasium müsse man so viel lernen, das sei in acht Jahren nie und nimmer zu schaffen. Dafür brauche man neun, besser sogar zehn Jahre. Eine wissenschaftliche Begründung für diese schulische Wunschfantasie gibt es nicht. Leistungsunterschiede zwischen Acht- und Neunjährigen muss man mit der Lupe suchen. Man wird sie nicht finden. Aber Volljährige in die Schule zu schicken und sie den strengen Anstaltsregeln zu unterwerfen ist barer Unsinn. Das Argument des überquellenden Lernstoffs lässt sich entgegenhalten, dass eine gründliche Überprüfung der Lehrinhalte manches zu Tage fördern würde, was ohne Schaden gestrichen werden kann. Dass 19-Jährige reifer sind als 18-Jährige, bestreite ich nicht. Aber 20-Jährige sind in der Regel noch reifer. Das spräche in der Tat für das zehnjährige Gymnasium. Mein Schlachtruf: Lasst die Finger von diesen G8/G9-Diskussionen. Schaut lieber auf die Finger derjenigen Lehrkräfte, die beim Lehrstoff Spreu und Weizen nicht auseinanderhalten können. Vielleicht reichen sogar sieben Jahre.
Teures Europa
Sind Billionen vorstellbar? Unsereiner hat schon bei Millionen und erst recht bei Milliarden seine visionären Grenzen erreicht. Nun wird Europa mit Billionen von Euro am Laufen gehalten. Die Krisenstaaten Italien und Spanien bekommen viel Geld, die autoritären Staaten Ungarn und Polen dürfen sich über höhere Zuschüsse freuen. Irgendwie bekommen alle mehr als bisher. Sogar Frankreich. Und Deutschland? Es erhält auch einen “Rabatt”, heißt es. Als Laie fragt man sich, woher das viele Geld kommt. Irgendwann habe ich gelernt, man könne nur das Geld ausgeben, was man vorher eingenommen habe. Nun lerne ich dazu: Ausgegeben kann man auch Geld geben, das man nicht hat, sondern sich per Kredit leiht. Europa hat offenbar unbegrenzten Kredit, es kann Schulden machen, dass es kracht. Was sagen eigentlich die Griechen dazu? Sie hat man jahrelang ob ihrer Schulden geknechtet. Vergangenheit. Wenn alle sich verschulden, hat niemand Schuld. Allerdings haben wir alle Schulden. Aber keiner muss sich darüber Gedanken machen. Niemand wird sich daran stören. Glückliches Europa!