Tübingens Oberbürgermeister hat ein besonderes Geschick, Erregungsreaktionen auszulösen. Mit seiner letzten Äußerung hat er sein Meisterstück geliefert. Sie besagt: Weil Menschen über 80 eh bald sterben, sei ihre aufwändige Rettung durch das medizinische System fragwürdig. Dieser Satz allein hat natürlich etwas Zynisches. Immerhin gibt es Menschen, die 90 oder gar 100 werden. Sollen diese Alten (zu denen Häckerling auch bald gehört) von der ärztlichen Betreuung ausgeschlossen werden? Wäre das der Sinn von Palmers Äußerung gewesen, müsste man sich in der Tat erregen. Aber das meint er gar nicht. Auch hier gilt: Wenn man Sätze aus ihrem Kontext reißt, werden sie angreifbar. Bismarck hat das mit der Emser Depesche trefflich vorgeführt. Man könnte auch an den biblischen Witz über Judas denken: Er hat angeblich Jesus „verraten“, dies aber später bereut. Er gab den „Judaslohn“ zurück „und erhängte sich“. Kombiniert man diese Mitteilung mit dem anderen biblischen Satz „Gehe hin und tue desgleichen“, hat man eine biblische Begründung für den Suizid. Palmer hat darauf verwiesen, dass (laut Vereinte Nationen) wegen der Maßnahmen im Gefolge der Corona-Pandemie und dem damit ausgelösten weltweiten wirtschaftlichen Kollaps die Armut in der Welt zunehmen wird. Das werde zum millionenfachen Tod von Kindern in den jetzt schon verarmten Gegenden der Welt führen. Merkwürdigerweise wurde dieser Teil seines Statements nicht als skandalös empfunden. Tote Kinder regen uns offenbar nicht auf; die gibt es immer. Doch halt, seien wir gerecht: Wir Deutschen haben knapp 50 Kinder und Jugendliche aus den griechischen Flüchtlingslagern zu uns geholt und damit „gerettet“.
Monat: April 2020
Teppiche aus Flicken können gut aussehen, wie überhaupt bunte Vielfalt nicht nur bei Schokolade ihre Reize hat. Bunt ist auch unsere Gesellschaft; es gibt Kinder und Alte, Männer und Frauen, Langweilige und Witzige, Schwarze und Weiße, Linke und Liberale und viele andere mehr. Das Wort vom „Flickenteppich“ ist gerade en vogue.. Man nennt die Unterschiede zwischen den Bundesländern so – dabei ist sie vom Grundgesetz so gewollt und festgeschrieben. Nicht nur die Länder sind verschieden, in diesen Ländern gibt es auch unterschiedliche Regionen (Oberschwaben ist anders als der Bereich Mittlerer Neckar). Warum Gleichheit, wo Ungleichheit herrscht? Soll wirklich alles zentral in Berlin entschieden werden? Unsere Verfassung betont die Subsidiarität. Manche Entscheidung wird besser, wenn sie in den Kreisen und Gemeinden betroffen wird. Ist also alles gut in der bunten Republik Deutschland? Nein; es gibt Bereiche, wo Unterschiede zu Ungerechtigkeiten werden. Alle Kinder und Jugendliche haben in gleicher Weise ein Grundrecht auf Bildung und Erziehung. Wenn aber, wie derzeit, die Bildung digital und zu Hause stattfindet, die Haushalte aber nicht vergleichbar ausgestattet sind, gibt es Bevorzugte und Benachteiligte. Die Digitalisierung des Bildungswesens ist in Deutschland noch erst in den Anfängen. Man ist die Aufgabe lustlos und zögerlich angegangen. Mit dem Ergebnis, dass uns die Pandemie eiskalt erwischt hat. Es gibt in den für die Bildung zuständigen Ländern kein ausgereiftes Konzept für den digitalen Unterricht, die Ausstattung der Schulen mit Hard- und Software ist sehr unterschiedlich („Flickenteppich“). Erprobte digital vermittelbare Unterrichtseinheiten sind Mangelware. Aber es gibt doch den Digitalpakt mit seinen 5 Milliarden Euro? Es gibt ihn und es gibt ihn auch wieder nicht. Dieser Tage war zu hören, dass von den Milliarden noch nicht mal ein Prozent bei den Schulen angekommen ist. Offenbar ist es der Administration gelungen, den Geldfluss bürokratisch auszuhebeln. Wer die entsprechende Verordnung liest, wundert sich nicht, dass der Fortschritt in diesem Bereich eine Schnecke ist.
Sprachliche Wolkenbildung
Krisen schlagen sich auch in Sprache und Literatur nieder. Wer noch keinen Virus-Sciencefiction-Roman geschrieben hat, tut gut, sich schnell an seinen Schreibtisch zu setzen, damit das Werk bald auf den Markt kommen kann. Dabei wird es schwer werden, mit Camus‘ „Pest“ zu konkurrieren, einem Zukunftsroman, der in der Vergangenheit spielt und an philosophischer Reflexion einiges zu bieten hat. Auch die Sprache der Politik schwingt sich zu immer neuen metaphorischen Höhen auf. Es gibt – grob eingeteilt – zwei Gruppen: die eine besteht aus Menschen, die uns „über den Berg“ sehen und „Lockerungen“ wollen, die andere aus jenen, die das Schlimmste befürchten. So stehen wir in der Sicht von Frau Merkel erst am „Anfang der Pandemie“. Wenn wir jetzt locker lassen, riskieren wir unsere bisherigen Erfolge. Die Kanzlerin ist in „großer Sorge“. Sie sieht uns auf „dünnem Eis“, also in der ständigen Gefahr „einzubrechen“ und „unterzugehen“. Das erinnert an Kassandra, die den Untergang Trojas kommen sah und auch verkündete, auf die aber nicht gehört wurde. Aus der Rückschau betrachtet, hatte Kassandra Recht. Unser Problem ist, dass wir vielen Stimmen ausgesetzt sind, aber nicht wissen, welche am Ende die richtige Stimme gewesen sein wird. Sind es die virologisch getränkten Stimme des Robert-Koch-Instituts, werden die Kassandra-Rufe der Kanzlerin berechtigt gewesen sein oder stimmen die Einlassungen der „Forschen“, der nach Freiheit Gierenden, derer, die die „Gängelung“ der Wirtschaft beenden wollen, zu denen auch der US-Präsident gehört? Oder sollen wir mehr auf die immer neuen Verlautbarungen der Wissenschaftler hören? Aber zu deren sprachlichen Regeln gehört es, dass eine Äußerung nur so lange als richtig gilt, bis sie widerlegt ist. Alle reden, keiner kennt die Wahrheit. Vielleicht wartet „hinter dem Berg“ bereits die nächste Pandemie, vielleicht lassen wir uns aber auch nur „verrückt machen“. Wer weiß?